Paulus Hochgatterer: "Die Süße des Lebens"
Paulus
Hochgatterer, zuletzt hervorgetreten mit der lesenswerten Novelle "Eine
kurze Geschichte vom Fliegenfischen" hat seinen ersten Kriminalroman
geschrieben, und es muss gleich zu Beginn gesagt werden: dieses Buch
ist ein voller Erfolg.
Wie Hochgatterer seine Personen schildert, wie
er langsam das gesellschaftliche und persönliche Netz, das sie
zusammen- und teilweise auch gefangen hält, entwirrt, ist
allerhöchste Spannungskunst.
Doch Hochgatterer ist auch ein hervorragender Schriftsteller, der seine
Zeit und seine Zeitgenossen akribisch beobachtet und vieles von den von
ihm als krank empfundenen Zuständen in der Gesellschaft und im
Zusammenleben der Menschen in die Beschreibungen der Personen und der
Handlung eingebaut hat.
Wie schon in seinem letzten Buch hilft ihm dabei seine Berufserfahrung
als Kinderpsychiater. So wundert es nicht, dass eine seiner
Hauptfiguren in "Die Süße des Lebens", Raffael Horn,
ein in einer Klinik arbeitender Kinderpsychiater ist. In diese Person,
seine Ansichten politischer und psychologischer Natur, hat Hochgatterer
vermutlich sehr viel Eigenes hineingelegt. Horn schaut ohne Illusionen
auf sein Leben und seine Tätigkeit:
"Das Leben geht immer schlecht aus. Als Psychiater bin ich in Wahrheit
mit nichts anderem beschäftigt als damit, den Menschen
vorzumachen, dass es nicht so ist. Ich bin ein Gaukler, dachte er. Dass
das Leben immer schlecht ausgeht, ist Grund genug, verrückt zu
werden oder sich aufzuschneiden oder sich Heroin in die Venen zu hauen,
aber das darfst du nicht laut sagen."
Dabei wird er nie zynisch, sondern er trägt zutiefst
menschliche Züge, sowohl in seinen beruflichen, als auch in
seinen privaten Beziehungen. Er macht sich keine Illusionen, nicht
über die Politik seines Heimatlandes Österreich und
der Notablen seiner Stadt Furth, in die er nach seiner
Facharztausbildung in Wien zusammen mit seiner Frau gezogen ist, und
auch nicht über seine Beziehung zu seinen Kindern.
Dann ist da der Kriminalkommissar Ludwig Kovacs, der, geschieden, in
einer lockeren, von seiner Seite aus hauptsächlich sexuell
orientierten Beziehung mit Marlene, der Betreiberin eines
"Secondhand-Shops" lebt, mit der er sich in der Regel einmal in der
Woche zu einem Essen und anderen Bedürfnisbefriedigungen
trifft. In seinen einsamen Nachtstunden blickt er durch ein Fernrohr in
die Weite des Universums, bemüht, seine Gedanken und
Gefühle zu ordnen.
Es taucht weiter auf Joseph Bauer, ein Benediktinerpater, der schon
seit Jahren mit Horns menschlicher und medikamentöser Hilfe
versucht, eine psychische Erkrankung, wohl eine Schizophrenie, im Griff
zu halten. Er läuft nachts kilometerweit, bestrebt, auf seine
Weise nicht zusammen- oder gar auseinanderzubrechen. Dabei macht auch
er sich seine Gedanken:
"Die Leute gehen aus verschiedenen Gründen ins Kloster, denkt
er, manche, weil sie Sicherheit brauchen, manche, weil sie die
Vorstellung von vielen Männern auf einem Fleck geil macht, und
manche, weil sie ansonsten früher oder später ihre
Mutter oder Schwester erschlagen würden."
Eine Patientin mit einem Kleinkind und einem eher undurchsichtigen
Ehemann liegt während des Handlungsverlaufs auf Horns
Belegstation und glaubt, ihr Neugeborenes sei der Teufel. Ein anderes
Kind wird eingeliefert mit derart zerschmetterten Unterarmen, dass sie
von den Chirurgen amputiert werden müssen. Als sich ein Zeuge
meldet, der die Lesart von Vater und Tochter, ein Auto sei
über die Arme gefahren, widerlegt, wird die Situation
für alle Beteiligten gefährlich.
Ein drittes Kind kommt zu Horn in Behandlung, weil es seinen toten
Großvater gefunden hat, dessen Gesicht so zerschmettert war,
als sei ein Meteorit hineingefallen. Das Kind schweigt und ist
gänzlich verstört.
Und ein gerade aus dem Gefängnis entlassener jugendlicher
Straftäter, Daniel, gerät nach langem, erfolglosem
Ermitteln und Nachdenken unter Tatverdacht. Dieser ist auch
für den Leser zunächst vollkommen schlüssig,
entpuppt sich Daniel doch als brutaler und perverser Mensch, der seinen
kleinen Bruder, Björn, der bei Pater Bauer in den
Schulunterricht geht, zu schrecklichen Taten, zunächst "nur"
an Tieren begangen, anstiftet und regelrecht zum Mörder
abrichten will.
Doch der offensichtliche Verdacht bestätigt sich nicht, weil
Hochgatterer die Lösung des Mordes in einer Weise auf die
Spitze treibt, dass die schlussendliche Auflösung im Rahmen
seiner psychopathologischen Sicht auf die Gesellschaft und auf das, was
verdrängt wurde, absolut schlüssig, wenn auch
völlig überraschend ist.
Paulus Hochgatterer lässt seine Charaktere abwechselnd jeweils
ein Kapitel lang erzählen und treibt auf diese Weise die
Handlung auf beeindruckende Weise vorwärts. Es gelingt ihm,
ein Psychogramm einer Kleinstadt zu zeichnen, das zu keinem Zeitpunkt
übertrieben wirkt.
Die Art, wie Hochgatterer mit viel menschlicher Wärme seine
Protagonisten darstellt, meistens vom Leben gezeichnete und mit
irgendeiner psychischen Krankheit geschlagene Menschen, hat mich beim
Lesen oft an den Stil der norwegischen Autorine Karin
Fossum erinnert, die ebenfalls ihre jahrelange
Berufserfahrung als Krankenschwester in der Psychiatrie in allen ihren
Romanen verarbeitet hat.
"Die Süße des Lebens" ist ohne Übertreibung
einer der besten Krimis oder Thriller, die ich in den letzten Jahren
gelesen habe. Der Titel des Buches ist ein Zitat des Kommissars Kovacs,
der auf die erschütterte Frage seiner Kollegin Sabine Wieck,
wer um alles in der Welt denn so ein schreckliches Verbrechen begehen
könne, antwortet: "Ein Mensch, der ein Problem mit der
Süße des Lebens hat, macht so etwas."
(Winfried Stanzick; 08/2006)
Paulus
Hochgatterer: "Die Süße des Lebens"
Gebundene Ausgabe:
Deuticke im Zsolnay, 2006. 296 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
dtv, 2008.
Buch
bei amazon.de bestellen
Paulus
Hochgatterer, geboren am 16. Juli 1961 in
Amstetten/Niederösterreich, studierte
Medizin
und Psychologie.
Er lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien und erhielt
diverse Preise und Auszeichnungen.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen. Erzählung"
Drei Männer fahren an einem windigen Septembertag zum Angeln
an einen Gebirgsfluss. In einer Autobahnraststätte serviert
ihnen ein junges Mädchen das Frühstück.
Angeregt durch diesen Kontakt beginnen die Männer, sich
verschiedene Dinge, zum Teil alltäglichen, zum Teil
absonderlichen Inhaltes, vorzustellen. Diese Vorstellungen werden zum
zentralen Gegenstand der Erzählung. Daneben knüpft
man Fliegen ans Vorfach, hat mit Witterung und
Fluss umzugehen und
fängt den einen oder anderen
Fisch.
Wer die rasante Prosa von
Paulus Hochgatterer kennt, weiß, was er bei diesem scheinbar
harmlosen Szenario zu erwarten hat! (Deuticke im Zsolnay Verlag)
Buch bei
amazon.de bestellen
"Das Matratzenhaus"
Frühlingsidylle in Furth am See, einer Kleinstadt in Österreich. Doch damit
ist es mit einem Schlag vorbei, als eine rätselhafte Serie von
Kindesmisshandlungen die Bewohner der Stadt in Unruhe versetzt.
Der
Psychiater Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs versuchen fieberhaft, den
Täter zu finden, bevor die Sache noch weiter eskaliert. Das ungewöhnliche
Ermittlerduo aus Hochgatterers Erfolgstitel "Die
Süße des Lebens" geht in diesem literarischen Krimi ein weiteres Mal auf
gemeinsame Spurensuche.
Es ist Frühling in Furth am See. In den
Gastgärten werden die Sonnenschirme aufgestellt. Psychiater Raffael Horn
verteilt Rindenmulch unter den
Rosen und macht sich Sorgen um die Treue seiner
Ehefrau; Kriminalkommissar Ludwig Kovacs fährt zum Angeln und denkt über den
bevorstehenden Besuch seiner Tochter nach.
Doch plötzlich tauchen dunkle
Wolken auf, mitten in diesem Frühling. Ein junger Mann stürzt von einem Gerüst
in den Tod. Ein misshandeltes Kind wird zur Polizei gebracht, wo sich schnell
herausstellt, dass es hier nicht um einen einzelnen Fall geht. Horn und
Kovacs versuchen fieberhaft, den Täter zu finden, bevor die Sache noch weiter
eskaliert - einen Täter, von dem es nur eine sehr vage Beschreibung gibt.
(Deuticke im Zsolnay Verlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Über die Chirurgie"
Bei flüchtigem Hinsehen könnte man die Figuren dieses
Romans für unauffällige, in geordneten
Verhältnissen lebende Menschen halten. Bei näherer
Betrachtung sieht dies jedoch ganz anders aus: Man entdeckt den
Chirurgen, der sich immer öfter als Regisseur absurd-blutiger
Dramen betätigt, den Schriftsteller, der sich zielstrebig auf
einen voyeuristischen Standpunkt zurückzieht, die
Psychoanalytikerin, die ihre Patienten durch ihr Verhalten zunehmend
verwirrt.
Sanft, aber unbeirrbar gleiten die Figuren aus ihren angestammten
Rollen und geläufigen Verhaltensnormen. Ums
Verrücktwerden geht es in diesem Buch, mit dem uns Paulus
Hochgatterer in einer literarischen Tour de Force, mit subtil dosiertem
Witz in Grenzgebiete, an die Ränder unserer Welt
führt. (Deuticke im Zsolnay Verlag)
Buch bei
amazon.de bestellen
"Der Tag, an dem mein Großvater ein Held wurde" zur Rezension ...
"Fliege fort, fliege fort" zur Rezension ...
"Wildwasser" zur Rezension ...