Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: "Das Heilige Römische Reich"
Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte
Unbeachtet
durch den Wahrnehmungshorizont einer sich einmal mehr im Trend - aus
welch verzagten Gründen auch immer - unhistorisch
gebärdenden Öffentlichkeit begeht die Historikerzunft
in diesen Tagen ein - unmittelbar anstehendes - Jubiläum zum
zweihundertjährigen Ende des Heiligen Römischen
Reiches. Als der Habsburger Franz II. am 6. August 1806 die Kaiserkrone
niederlegte, verwaiste eine (als transpersonale
Größe de jure bis in unsere Tage hinein
fortbestehende) Reichsidee, die als gleichermaßen
überweltliches wie überzeitliches Ideal nie wirklich
zu einer das Handeln der Völker und ihrer leitenden Eliten
prägenden Realität gereicht hatte und doch, ob ihrer
ideellen Anknüpfung an antik-römische Traditionen,
auf das Empfinden derselbigen Untertanen und Handlungsträger
von unvergleichlicher Faszination war. Eine Faszination, die nachwirkt
und nach wie vor in Gestalt zahlloser Artefakte in den
Landschaftsbildern deutscher und ehemals deutscher Lande manifest ist.
Für gewöhnlich verfährt die Wissenschaft von
der Menschheitsgeschichte, insofern sie nicht dem philosophischen
Ersinnen metaphysisch gearteter Weltgeister frönt, nach dem
Muster der chronologischen Aufzählung eines mehr oder weniger
gesichert vorliegenden Faktenmaterials. In mechanistischer Manier
werden solcherart Jahreszahlen quasi abgerechnet und die Namen von
historisch Prominenten wie auch dazugehörige Ereignisse dem
mathematischen Zeitwesen hinzugetextet. Eine zwar irgendwie schulisch
bewährte doch wegen ihres monotonen Gleichtakts
ermüdende Methode, die geeignet ist, den Studierenden dem
Gegenstand seiner Aufmerksamkeit rasch zu entfremden. Herbers und
Neuhaus negieren nun gewiss nicht das Altbewährte,
ergänzen dieses jedoch um eine
schwerpunktmäßige Orientierung an den
Schauplätzen historischen Geschehens. Der Autoren Anspruch ist
es, die Reichsgeschichte zu veranschaulichen. Ihr Buch möge
nicht nur gut lesbar, sondern eben auch gut anschaubar sein. Der
sinnliche Reiz des Illustren und die Vertrautheit der begehbaren
Örtlichkeit solle die vorwiegend abstrakte Erzählung
als lebensweltlich begreifbar machen. Wobei, um dies an gegebener
Stelle klar zu stellen, weder ein der bloßen Sinnenfreude
brünstig zugeneigtes Bilderbuch zustande kam, noch in Bezug
auf das allemal gebotene hohe Niveau einer fachwissenschaftlichen
Literatur unlauterer Verzicht geübt wurde.
Zur Veranschaulichung dient nun nicht nur ein reichhaltiges
Bildmaterial, sondern dienen auch Karten und Tafeln, die weitaus mehr
Informationswissen über den besonders gelagerten Charakter der
römischen Reichsidee vermitteln, als man gemeinhin meinen
möchte. Wie allgemein bekannt, erhielt das "Heilige
Römische Reich" erst ab dem späten 15. Jahrhundert
den Zusatz "deutscher Nation". Vermittels einer Karte der
Begräbnisorte der Römischen Könige und
Kaiser, die (beginnend mit
Karl I. der Große)
überwiegend germanischen bzw. deutschen
Fürstengeschlechtern entstammten, wird beispielsweise
deutlich, wie übernational die Reichsidee zu verstehen war und
ebenso bis in den Tod hinein gelebt wurde. So sind zwei der Monarchen
in Spanien und gezählte acht der ihrigen in Italien zur
letzten Ruh bestattet. Auch das ungarische Nagyvárad
beherbergt die sterblichen Überreste eines Römischen
Herrschers, ebenso wie das britische Gloucester oder das belgische
Brügge. Ersichtlich wird aus der geografischen Verortung der
Begräbnisstätten zudem die neuzeitliche Verschiebung
der Machtzentren aus dem deutschen Nordwesten in den
südostdeutschen österreichischen Kulturraum. Prag und
Wien sind als kaiserliche Residenzstädte zugleich der
Herrscher Begräbnisorte (Kapuzinergruft in Wien). Eine
Hauptstadt, die gab es in diesem überirdischen Reich mit
irdischer Repräsentanz bekanntlich nicht. Es gab lediglich
Schauplätze, an denen sich das Reich ereignete, wo seine
Funktionäre agierten oder zur letzten Ruh gelegt wurden.
Dem Heiligen Römischen Reich lag eine mystische Heilsidee
zugrunde, weshalb es seiner ideellen Wesenheit gemäß
als heilig tituliert war. Seinem bekanntlich
ziemlich kriegerischen Begründer, Karl dem Großen
(748-814) aus dem Geschlecht der Karolinger, widerfuhr 1165 eine -
mangels eines heiligmäßigen Lebensstils wohl eher
unverdiente - Heiligsprechung. In Köln wurden die
vermeintlichen Dreikönigsreliquien aufbewahrt. Das Heilige
wurde, wenn schon nicht gelebt, so eben von kirchenfürstlicher
Seite mit magischer Handlungsmacht verfügt, oder, soweit man
entsprechender Dinge habhaft wurde, mit inbrünstigem Eifer
gesammelt. Der anspruchsgemäß heilige und deswegen
Heil bringende, also sozusagen heilende Charakter von Figuren und
Schauplätzen der Reichsgeschichte ist demnach nur allzu
evident und solcherart als nichts weniger als eine das Sakrale zu
Legitimationszwecken benutzende Herrschaftsideologie zu verstehen. Dies
mag kritischere Zeitgenossen unter uns bis zur Erzürnung
aufreizen, zumal die irdischen Dienstherren des Sacrum
Imperium nur zu gerne im Blut Unschuldiger wateten, doch
verstetigte die Heiligkeit die Unantastbarkeit des Reiches bis in die
Gegenwart hinein. Da einer Überwelt vollkommener Ideen
entliehen, vergegenständlichte sich das Reich an den
Schauplätzen seiner Erfahrbarkeit über eine
Inbildsetzung prunkvoller Erhabenheit. Und schuf solcherart eine im
Geiste dieser göttlichen Reichsidee geschaffene
Kulturlandschaft, deren Vermächtnis nach wie vor unser
kulturelles Selbstverständnis in erheblichem Maße zu
prägen imstande ist. Diese nachwirkende
Identitätsstiftung zu verdeutlichen ist ein ganz wesentliches
Verdienst des zur Besprechung vorliegenden Buches der Autoren Herbers
und Neuhaus.
Die (mehr als) tausendjährige Geschichte der
Schauplätze findet im Hier und Jetzt, also in
gegenwärtigen Tagen, eine geschichtspolitisch nicht unbrisante
Fortsetzung. Anlassfall hierfür ist unter anderem das vom
Rezensenten besprochene Buch. Bei den nunmehrigen Schauplätzen
handelt es sich um das Wien und das Berlin unserer
Tage, bzw. weiter gefasst um Österreich und Deutschland und
die Bruchstelle in ihrer gemeinsamen Nationalgeschichte. Wie nicht viel
anders zu erwarten war, führte die kürzlich erfolgte
Präsentation des Buches an der Universität Wien zu
weder ganz so spontanen, noch ganz emotionsfreien Wortmeldungen
betreffend die geschichtspolitische Bedeutung des
Jubiläumsjahres zum zweihundertjährigen Ende des
Heiligen Römischen Reiches. Und das Buch versteht sich als
ausdrücklicher Beitrag zu diesem Jubiläumsjahr. Als
Franz II. am 6. August 1806 die Kaiserkrone niederlegte und
fürderhin nur noch als Franz I. Kaiser von Österreich
fungierte, brachte er eine, obgleich zu diesem Zeitpunkt
überlebte, feudalistisch geordnete Lehensverfassung zur
Auflösung, die nicht zuletzt das in seinem späteren
Wirken Unheil bringende Königreich Preußen von
seinen Lehnspflichten gegenüber dem irdischen
Repräsentanten der übernationalen römischen
Reichsidee entband. An die Stelle der übernationalen und
ideell an den Humanismus der Antike gebundenen Reichsidee, welche die
deutsche Nation zum Träger antiker Wertschätzungen,
die Deutschen quasi zu Griechen und Römern der Neuzeit erkor,
konnte nunmehr, nach erfolgter Entfesselung vom Geist der Antike, ein
zur barbarischen Raserei tendierender Hypernationalismus treten. Die
Idee einer Nation von Herrenmenschen.
Wenn nun einzig deutsche Autoren dieses denkwürdigen Jahres
1806 gedenken, nicht jedoch (auch) österreichische, und wenn
nun einzig in Berlin eine Ausstellung jenen Akt der Reichsentsorgung
von 1806 dokumentiert, der aus Sicht eines norddeutschen Standpunkts
eine machtpolitisch heroische Epoche einleitete, hingegen das
gegenwärtige Wien, als seinerzeitiges Zentrum imperialen
Machtverfalls, ob jetzt aus Mitgefühl mit dem
Elend der
Habsburgerdynastie oder ob der historischen Diskreditierung jeglicher
gesamtdeutscher Reichsidee wegen, sich in "politisch korrekter"
Selbstvergessenheit übt, so ist diese ungewichtig einseitige
Betrachtungsweise im Gesamtergebnis als ein geschichtspolitisch
zumindest nicht hinreichend ausgewogener Perspektivismus zu erachten.
Denn dieses Ereignis von 1806 bedeutete in unterschiedlichem
Maße Ende und Neubeginn, Untergang und Aufstieg, Festhalten
am und Abnabelung vom antiken Wertekanon. Mit dem Untergang der
römischen Reichsidee zerbrach eine ganze Überwelt,
die mehr als eine simple Herrschaftsideologie in sich barg.
Die Diskussion zu diesem Thema ist wohl noch nicht ausgestanden,
sondern gerade erst einmal zur Einleitung gebracht worden. Dies ist
jedenfalls aus österreichischer Sicht zu hoffen, denn dass die
Geschichte etwas sein dürfte, dessen man sich ob
völkischer Exzesse eigentlich geniert, sodass
Versäumnisse zur zeitgeschichtlichen Routine mitunter schon
als tugendlich verkannt werden, kann wohl nur ein falscher Zugang zur
Formung eines kollektiven Bewusstseins von Geschichte sein. Eine
Geschichte, deren Abkömmling man immerhin ist. Dass der
Anstoß zu diesem Identitätsfindungsprozess
betreffend der Abstammung aus einer zur Heiligkeit deklarierten quasi
gesamtdeutschen Reichsidee vermittels eines Buches von Deutschland aus
initiiert werden muss, scheint bezeichnend für eine (in
Österreich weit verbreitete und aus selbstevidenten
Beweggründen überaus populäre) Wunschhaltung
nach Verleugnung einer hoffnungslos diskreditierten Nationalgeschichte.
Die daraus zu gewinnende Erkenntnis einer historisch aus dem Geiste der
Antike geborenen Identität sollte jedoch als ansatzweise
lohnende Alternative zu dem nach 1945 konstruierten - insgeheim
unglücklichen - Geschichtsbewusstsein begriffen werden.
Immerhin war diese deutsche Nation, die ihr
neuzeitliches Zentrum in Wien hatte, Träger einer im Grunde
genommen noblen Idee, welche, nach Ableben korrumpierender, weil
dynastischer Herrschaftsinteressen, ein gedankliches Konstrukt von
beträchtlicher visionärer Kraft darbietet und - um
dies festzustellen - als allumfassender Humanismus antiker
Prägung rein gar nichts mit der
Rassenideologie im Dritten
Reich gemein hat. Ein Reich ist nicht gleich ein Reich, obwohl das Wort
immer Herrschaft meint. Das begriff auch Adolf
Hitler und verwarf den Begriff "Drittes Reich", denn
sein Reich sollte das einzige und immerwährende, das
Reich schlechthin sein, und nicht erst das dritte in einer Abfolge von
mehreren und zueinander wesensfremden Reichen.
Wenn nun Klaus Herbers und Helmut Neuhaus ihre Geschichte des Heiligen
Römischen Reiches nicht anhand gewichtiger
Persönlichkeiten, sondern vermittels
geschichtsträchtiger Schauplätze erzählen,
fällt es selbst dem in seinem Eifer törichtesten
Verleugner geschichtlicher Begebenheiten alsbald schwer, fortgesetzt zu
meinen, dies ginge ihn alles nichts an. Denn die
hauptsächlichen Schauplätze
deutsch-österreichischer Reichsgeschichte waren: Regensburg,
Frankfurt, Augsburg, Nürnberg, Aachen, Prag und Wien.
Schauplätze einer, wenn auch nicht immer
brüderlichen, so doch geschwisterlichen Geschichte, erwachsen
und geworden aus dem Geiste einer gemeinschaftlichen Reichsidee, deren
ideelles Wesen nicht von dieser Welt war. Davon und von der
Reichhaltigkeit historischen Geschehens im Rahmen einer
tausendjährigen deutschen Reichsgeschichte berichten Klaus
Herbers und Helmut Neuhaus in ihrem bildprächtigen Buch.
Welches nun zweifellos als ein stolzer Beitrag zur geschichtlichen
Bewusstseinsbildung zu erachten ist.
(Tasso; 06/2006)
Klaus
Herbers, Helmut Neuhaus: "Das Heilige Römische Reich"
Böhlau, 2005. 343 Seiten.
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