Anna Maria Sigmund: "Dämon, Diktator, Demagoge"

Fragen und Antworten zu Adolf Hitler


Wie war es möglich?

Diese in roter Schrift auf der Rückseite des Einbands prangende Frage bewegt und beunruhigt die Menschen, seit sie nach dem Krieg möglich und notwendig wurde. Insbesondere Deutschland präsentierte sich auch in dieser Hinsicht meistens zweigeteilt: Die einen waren und sind pauschal in der Verurteilung von Hitlers Zeitgenossen, die anderen in der Rechtfertigung. In Österreich, dem Heimatland der Autorin (und des Diktators), tut man sich ebenfalls schwer mit der Meinungsfindung.
Anna Maria Sigmund, Autorin mehrerer Bücher über Persönlichkeiten des Nationalsozialismus, geht der Frage nach den Gründen für Hitlers Erfolg nach, wobei sie neue, bislang unbekannte Quellen nutzt und gängige Interpretationen der üblichen Quellen infrage stellt.
Im ersten Kapitel geht es um die Begeisterung, die Hitler auslöste. Die Autorin räumt hier bereits mit einigen Vorurteilen auf: Hitler war nicht arm und asozial, desgleichen seine engsten Mitstreiter, die aus gut situierten, bürgerlichen Familien stammten und von Hitlers rhetorischem Genie gefesselt waren. Der Leser erfährt, wie Hitler seine Begabung erkannte und sorgsam kultivierte, bis er tatsächlich in der Lage war, ganze Menschenmassen mit sich zu reißen.
Das nächste Kapitel beleuchtet die Hintergründe des Zusammenbruchs der Weimarer Republik. Radikalisierung aufgrund der bitteren Armut im Zuge der Weltwirtschaftskrise, schwache Regierungen, die sich nur mit Notverordnungen durchsetzen konnten, Absprachen mit und großzügige Spenden von der Industrie, schließlich dann von Papens fatale Rache an von Schleicher und ein greiser, zunehmend verwirrter Staatspräsident: Mit langem Atem, Terror und eindrucksvollen Reden zerstörte der vielfach unterschätzte "österreichische Gefreite" (Hindenburgs abfällige Bezeichnung) die junge, unerfahrene Weimarer Republik. - In diesem Kapitel findet man wenig wirklich Neues, doch es sensibilisiert für die folgenden Abschnitte.
Im dritten Kapitel werden die Tricks von Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann entlarvt, der es wie kein anderer verstand, Hitler propagandawirksam in Szene zu setzen. In Ermangelung geeigneten Bildmaterials aus anderen Quellen verwenden auch heute noch viele Herausgeber Hoffmanns geschickt auskomponierte und, wo nötig, sorgfältig retuschierte Fotos. Frau Sigmund gelingt es, den "Reichstrunkenbold", eine der interessanten Figuren aus Hitlers Entourage, umfassend zu porträtieren und seinen Beitrag zum Dritten Reich zu verdeutlichen.
Über Hitlers Abstammung wurde und wird angeregt spekuliert. Daher ist ihr ein eigenes Kapitel gewidmet, das belegt, wie durchschnittlich und unspektakulär Hitlers Familie in Wirklichkeit war, wenn nicht sogar verhältnismäßig wohlhabend.
Neuland betritt Anna Maria Sigmund, indem sie eindeutig belegt, dass die tragischen Anekdoten um Hitlers Aufenthalt in einem armseligen Wiener Obdachlosenasyl erfunden sind. Sie zeichnet seine Wiener Jahre lückenlos nach und nimmt ihnen die Tragik, mit der Hitler sich gern brüstete: Er war finanziell stets ausreichend versorgt.
Nicht minder interessant erscheint das folgende Kapitel, in dem die Frage aufgeworfen wird, warum Hitler die Waldviertler Dörfer, in denen seine Ahnen gelebt hatten und viele Verwandte immer noch lebten, in einen riesigen Truppenübungsplatz verwandelte, und warum er sich stets von seiner weiteren - durchaus vorzeigefähigen (!) - Familie distanzierte.
Das letzte Kapitel über unzählige nicht bekannt gewordene und oft akribisch ausgetüftelte Attentatsversuche auf Hitler und den Maßnahmen zu deren Verhinderung bildet möglicherweise den Höhepunkt des Buchs, denn es zeigt auf, dass der Widerstand ausgeprägter und besser vernetzt war als bisher angenommen und zugegeben. Auf keinen Politiker wurden mehr Anschläge verübt als auf Hitler. Überraschend und bestürzend bleibt die Tatsache, dass der Diktator tatsächlich so etwas wie einen siebten Sinn besessen haben muss.

Dieses Buch klärt in der Tat zumindest einige Fragen zu Adolf Hitler - auch wenn es neue aufwirft, was beim Thema Nationalsozialismus unvermeidlich ist - und nähert sich der Lösung sehr schwieriger Rätsel wie etwa jenes um Hitlers ungeheure Ausstrahlung weitestmöglich an. Die erwähnten, erst vor kurzem zugänglich gewordenen Quellen bieten neue Ansätze zur Interpretation, die Frau Sigmund schlüssig ausarbeitet. Besonders eindrucksvoll belegt sie immer wieder, wie sehr die raffinierte Propagandamaschinerie auch heute noch unser Bild vom Hitlerstaat und seinen Würdenträgern prägt; zumindest sie hat die Entnazifizierung umgangen. Viele der zahlreichen Bilder im Buch sind bisher entweder nicht oder nur selten veröffentlicht worden.
Das Buch orientiert sich also an Fakten, dennoch macht der unkomplizierte Stil es für ein breites Publikum interessant, zumal die Lektüre kein umfassendes Hintergrundwissen voraussetzt. Vermutlich deshalb kommt es manchmal zu kurzen inhaltlichen Überschneidungen, die aber kaum stören. Anna Maria Sigmund erklärt die Hintergründe für Hitlers Erfolg und Machtergreifung, und sie zeigt auf, wie schwierig es war, sich Hitlers "bösem" Charisma zu entziehen. Hitlers Lügen um seine angeblich einfache Herkunft und die keineswegs armseligen Jahre in Wien entpuppen sich als Propagandatrick. Auch wird begreiflich, welchen Gewissensnöten und vor allem praktischen Schwierigkeiten potenzielle Attentäter ausgesetzt waren, insbesondere jene aus der Wehrmacht, und wie frustrierend Hitlers zunächst starke Akzeptanz im Ausland auf seine inländischen Gegner wirkte. Selbstverständlich wirbt die Autorin dabei nicht um Verharmlosung oder gar Vergessen der Naziverbrechen, ganz im Gegenteil. Dieses vom Ansatz her ungewöhnliche und höchst interessante Buch kann hingegen einen Beitrag dazu leisten, dass gefährliche Demagogen künftig als solche erkannt und im einfachsten Fall ignoriert werden.

(Regina Károlyi; 03/2006)


Anna Maria Sigmund: "Dämon, Diktator, Demagoge"
dtv, 2006. 260 Seiten.
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Herbert Rosendorfer: "Deutsche Suite"
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Walter Kempowski: "Haben Sie Hitler gesehen? Haben Sie davon gewusst?"
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Ende der 1950er-Jahre begann Walter Kempowski, seine Verwandten nach ihren Erinnerungen an Kindheit, Jugend und die Zeit des Dritten Reichs zu befragen. Sorgfältig notierte der angehende Schriftsteller alles in den "roten Bänden", Grundstock für sein Romanprojekt der "Deutschen Chronik", das ihn berühmt machte. Parallel dazu fing er an, Nachbarn, Bekannten und Passanten zwei Fragen zu stellen: "Haben Sie Hitler gesehen?" und "Haben Sie davon gewusst?" (nämlich von den Konzentrationslagern). Kempowski betrat mit dieser systematischen Befragung Neuland und brach damit im Wirtschaftswunderland Deutschland ein Tabu. Denn Vergessen und Verdrängen war das Gebot der Stunde.
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Timur Vermes: "Er ist wieder da"
Frühjahr 2011. Adolf Hitler erwacht auf einem leeren Grundstück in Berlin-Mitte. Ohne Krieg, ohne Partei, ohne Eva. Im tiefsten Frieden, unter Tausenden von Ausländern und Angela Merkel. 66 Jahre nach seinem vermeintlichen Ende strandet der Gröfaz in der Gegenwart und startet gegen jegliche Wahrscheinlichkeit eine neue Karriere - im Fernsehen. Dieser Hitler ist keine Witzfigur und gerade deshalb erschreckend real. Und das Land, auf das er trifft, ist es auch: zynisch, hemmungslos erfolgsgeil und auch trotz Jahrzehnten deutscher Demokratie vollkommen chancenlos gegenüber dem Demagogen und der Sucht nach Quoten, Klicks und "Gefällt mir"-Schaltflächen. Eine Persiflage? Eine Satire? Politkomödie? All das und mehr: Timur Vermes' Romandebüt ist ein literarisches Kabinettstück erster Güte. (Eichborn, Lübbe)
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