Rudolf Burger: "Im Namen der Geschichte"
Vom Missbrauch der historischen Vernunft
Provokantes
zum Geschichtsverständnis
Rudolf Burger, 1938 geboren, seit
Sommer 2007 emeritiert, gilt als unbequemer Intellektueller. Nach
Studium und
Promotion in Physik habilitierte er in Wissenschaftssoziologie und
hatte ab 1991
den Lehrstuhl für Philosophie der Hochschule für
angewandte Kunst in Wien
inne.
Amnesie
Gleich zu Anfang spricht der Autor einen Punkt an, mit dem er schon vor
Jahren
in Österreich für Aufregung gesorgt hatte. Er
verweist auf die antike Praxis
des Nicht-Erinnerns, der Amnesie, die bis ins 19. Jahrhundert erprobter
Bestandteil von Friedensschlüssen war. Ein kollektives
"Schwamm drüber"
als Anfang neuer, friedlicher Beziehungen. Doch heute, so merkt er an,
herrscht
ein Zwangserinnern vor, das oft auch die Köpfe blockiert. Er
fährt fort: "Was
wäre den Völkern am Balkan nicht alles erspart
geblieben, hätten die Serben
die Schlacht am Amselfeld irgendwann einmal vergessen ..."
Doch durch
das "Du sollst niemals vergessen!" der Zeit nach 1945 blieben die
Geister jener Epoche letztlich lebendig, schreibt Burger. Das ist
provokativ,
hat aber eine gewisse Logik. "In Gestalt des ritualisierten
'Holocaust-Gedenkens'
wurde (das Wissen um Auschwitz) ein affirmatives Element
deutsch-jüdischer
Folklore, bei dem sich niemand mehr etwas denkt - und damit zu einem
idealen
Steinbruch für 'Kulturschaffende' [...]." Es
heißt weiter: "Nicht
verstehen oder begreifen, sondern 'Niemals vergessen!' lautet das Gebot
dieses
moralisierenden Neohistorismus. Er hat das Denken durch das Gedenken
ersetzt und
das Denkmal durch das Mahnmal." Und
weiter kann man lesen: "Nicht die Vergangenheit legt uns fest
und
definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit, die wir haben,
eine Bedeutungsstruktur verleihen, die
sie von sich aus niemals hat [...] und sie damit zu unserer Geschichte,
zu
unserem 'Gewesen-Sein' machen, definieren wir uns mittels
unserer Geschichte."
Gegenwart und Herkunft einer Deutungsgeschichte
In einer Bestandsaufnahme zeigt der Autor auf, dass in unserer
Gesellschaft
verschiedene Motive für Geschichtsschreibung und
Geschichtsrezeption
existieren. "Wir wissen heute, oder könnten es
wissen: Alle großen
Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem
bösen Willen, die Täter
verfolgen aus ihrer Binnenperspektive immer 'das Gute', ihr Antrieb ist
stets
eine 'Begierde des Rettens' (Hegel) und sie sind um Objektivierungen,
heißen
diese Rasse, Klasse, Volk oder Nation: Man kann dem Nationalsozialismus
oder dem
Stalinismus vieles nachsagen, aber nicht, dass sie keine
Wertegemeinschaft
gewesen seien - der Kommunismus als Ideal war eine 'Wertegemeinschaft'
sogar im
wörtlichen Sinne." Und weiter schreibt Burger: "Die
fürchterlichsten
Massaker wurden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt,
sondern von Gläubigen
und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen."
Für Robespierre
und
Saint Just mag diese Einschätzung gelten. Doch in der
pauschalen Formulierung
stellt sich bei dem Rezensenten ein deutlicher Zweifel ein, denn auch
schwerste
Persönlichkeitsstörungen sind oft genug Ursachen
großer historischer
Gewalttaten gewesen. Es fällt schwer, den späten
Hitler oder den späten
Stalin nur in der
Kategorie der Gläubigen und
Utopisten
zu
führen.
In einer kürzen Übersicht (nach Eric Voegelin) wird
ausgehend von der Antike
die Entwicklung von einem kosmologisch-zyklischen Geschichtsprinzip
über ein
anthropologisches bis hin zu dem noch weit verbreiteten
soteriologischen (erlösungsgeschichtlichen)
Prinzip aufgezeigt. Die abendländische Geschichte wurde in
ihrem Verlauf also
zunehmend instrumentalisiert. Neben einem atheistischen Intermezzo
einer
prinzipienfreien Geschichte, das
Voltaire postulierte, unterstellten
jedoch die
nachfolgenden Modelle des 19. Jahrhunderts bereits wieder einen Telos.
Doch
nicht nur
Marx predigte eine teleologische Geschichtsphilosophie, auch
(der
Protestant) Hegel unterzog die Geschichte einem immanenten Prinzip:
Vernunft.
Der Autor weist nach, dass selbst Horkheimer sich in biblischen Motiven
zu
verheddern wusste: "Wenn die Versuche versagen, die Gegenwart
für alle
glücklich zu gestalten, wenn die Utopie, in welcher der Zufall
ausgelöscht
ist, sich nicht verwirklichen lässt, muss eine
Geschichtsphilosophie entstehen,
die hinter der erfahrenen Wirrnis von Leben und Tod eine verborgene,
gütige
Absicht zu erkennen vermeint, in deren Plänen das einzelne,
scheinbar
unbegreifliche und sinnlose Faktum seinen ganz bestimmten Stellenwert
hat, ohne
selbst darum zu wissen."
Geschichte ohne Wertung hält der
Autor für nicht möglich, denn: "Ein
historischer Bericht ist daher
unausweichlich eine Mischung von ausreichend und anzureichend
erklärten
Ereignissen, eine Anhäufung von erwiesenen und spekulativ
erschlossenen Fakten
vor einem unendlichen Horizont des Verschwiegenen, zugleich eine
Darstellung,
die Interpretation ist, und eine Interpretation, die als
Erklärung des Gesamten
des in der Erzählung wiedergegebenen Prozesses gelten will."
Fazit
Der Rezensent bedauert vorsorglich ein wenig, dass in dem Buch zwei
Themen
angesprochen werden, die zwar schon zusammengehören, aber
einen völlig
unterschiedlichen Stellenwert haben. Dass der Umgang mit der
Geschichtsschreibung und die Geschichtsphilosophie selbst dringend
einer
gesellschaftlichen Diskussion bedürfen, dürfte
weitgehend unstrittig sein,
nimmt man einmal die Anhänger streng religiöser oder
politischer Ideologien
aus. Dass aber der Umgang mit dem
nationalsozialistischen Erbe in Frage
gestellt
wird, dürfte einige Kritiker auf den Plan rufen. Die
relativierende Analogie
beider Themen, die sich zwangsläufig aufdrängt, hat
in der Tat einen schalen
Beigeschmack, zumindest auf den ersten Blick. Aber es ist
offensichtlich die
Absicht des Autors, zu provozieren.
Rudolf Burger redet natürlich nicht einer Geschichtslosigkeit
das Wort,
wenngleich einige der pointiert vorgebrachten Thesen durchaus diesen
Eindruck zu
erwecken scheinen. Die Geschichte könnte beispielsweise dazu
dienen, den
Politikern dieser Welt als Reservoir gemachter Fehler und verpasster
Chancen zu
dienen. Schon Thomas Hobbes schrieb vor 350 Jahren, dass ein Krieg zu
nichts,
aber zu absolut gar nichts führt. Und? Interessiert das heute
irgendwen?
Es bleibt zu hoffen, dass diesem
Essay noch einige Veröffentlichungen folgen werden, denn auf
den 120 Seiten ist
beileibe nicht alles zu Wort gekommen, was es hierzu zu sagen gibt.
Gewünscht hätte
sich der Rezensent einen Ansatz aus der Misere, der wohl zu formulieren
sein müsste.
Der Geschichte ein immanentes Prinzip zu unterstellen, ist sicherlich
unredlich,
aber sie an einem Wertekanon zu messen, erscheint ein durch
erstrebenswertes
Modell zu sein. Man bräuchte hierzu lediglich einen
verbindlichen Wertekanon
...
So mögen am Ende noch zwei Zitate zu Wort kommen. Das erste
stammt von Friedrich
Hebbel: "Es gibt nur eine Sünde, die gegen die ganze
Menschheit mit all
ihren Geschlechtern begangen werden kann - und dies ist die
Verfälschung der
Geschichte." Das zweite recht kühne Zitat
formulierte einst Paul Valéry,
ein bedeutender philosophischer Denker des 20. Jahrhunderts. Doch je
mehr man
diesen Satz auf sich wirken lässt, desto deutlicher zeichnet
sich sein
Wahrheitsgehalt ab: "Die Geschichtsschreibung stellt das
gefährlichste
Produkt dar, das in der Giftküche des menschlichen Verstandes
je gebraut
wurde."
(Klaus Prinz; 11/2007)
Rudolf
Burger: "Im Namen der Geschichte.
Vom Missbrauch der historischen Vernunft"
zu KLAMPEN! - Verlag, 2007. 128 Seiten.
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