Martin Hubert: "Ist der Mensch noch frei?"
Wie die Hirnforschung unser Menschenbild verändert
Freier
Mensch oder willenloser, neuronal gesteuerter Sklave?
Was ist der Mensch? Eine willenlose, von seinen Neuronen gesteuerte
Maschine oder doch ein geistbegabtes Wesen, das sich von der
materiellen Natur weitgehend unabhängig machen kann? Eine
Frage, die seit Anbeginn der Menschheit ihrer Beantwortung harrt.
Natürlich kann auch die moderne Hirnforschung diese
grundlegende Frage nicht völlig zufriedenstellend beantworten.
Und die Fragen, auf die Martin Huberts Buch laut
Einführungstext Antwort geben soll, die werden wohl zur
Diskussion gestellt aber keinesfalls überzeugend beantwortet.
Im Gegenteil, bestehende Fragen sowie die zahlreichen von den
Neuro-Wissenschaftlern durchgeführten Experimente, die Antwort
auf diese Fragen geben sollen, werfen immer wieder neue Fragen auf, und
auch die Hirnforschung befindet sich wie alle Wissenschaftsdisziplinen
doch letzten Endes immer nur auf dem neuesten Stand des Irrtums, wenn
ich es einmal sarkastisch ausdrücken will. Das liegt wohl
daran, dass den Forschern, um ihre im Versuch gewonnenen Erkenntnisse
zu deuten, kein besseres Instrument zur Verfügung steht, als
eben ihr Gehirn, welches Gegenstand der vorliegenden Publikation ist.
Sechs Kapitel führen uns sukzessive durch die neuesten
Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften und zeigen die daraus
möglicherweise erwachsenden Konsequenzen auf. Im ersten
Kapitel stellt der Autor das traditionelle, auf dem Dualismus von Geist
und Materie beruhende Menschenbild dem mehr oder weniger
reduktionistischen Bild der modernen Hirnforschung gegenüber.
Im zweiten Kapitel geht es um unsere Gefühle und um die Macht,
die diese auf uns ausüben. Dabei steht vor allem die Frage im
Vordergrund, ob das Bild von der Einheit von Fühlen und Denken
seine Gültigkeit besitzt, oder ob es eher auf einen Konflikt
zwischen Fühlen und Denken hinausläuft und in welchem
Zusammenhang dies alles mit dem
Freiheitsbegriff des Menschen steht.
Ins Reich des Unbewussten führt uns das dritte Kapitel. Es
zeigt auf, dass man Bewusstsein und
Unbewusstes
nicht wie zwei
Schichten voneinander trennen kann, sondern dass ständig
Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen stattfinden. Verschiedene
Bewusstseinsmodelle, die zur Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion
stehen, werden in ihren Grundzügen vorgestellt. Beim
Unbewussten trifft Martin Hubert die Unterscheidung zwischen dem
kognitiven Unbewussten und dem dynamischen Unbewussten, das auf Freud
zurückgeht. In diesem Zusammenhang wird auch auf die
Renaissance der Freudschen Verdrängungs- und Traumtheorien
hingewiesen. Kein Wort allerdings zu
C. G. Jungs kollektivem und
persönlichem Unbewussten.
Gibt es so etwas wie ein ganzheitliches Ich des Menschen? Diese Frage
ist Gegenstand des vierten Kapitels. Und hier wird es zunehmend
spekulativ und sogar paradox. Der Autor selbst zieht als Bilanz seines
Kapitels über das Ich, dass Paradoxien einfach zur
Realität des Ichs dazugehören. Ist das ganzheitliche
Ich also nun eine bloße Illusion oder kann es doch
Realitätsstatus für sich beanspruchen? Martin Hubert
gibt uns folgende Antwort: "Die persönliche
Ich-Identität ist nur dann eine Illusion, wenn sie als etwas
Fixes und Voraussetzungsloses angesehen wird. Sie ist aber dann etwas
Reales, wenn sie als ein Prozessgeschehen aufgefasst wird."
Soziales Verhalten ist das Thema des fünften Kapitels. Martin
Hubert gesteht seinen Lesern ein, nachdem er sie über
zahlreiche Versuchsreihen und deren Ergebnisse in Kenntnis gesetzt hat,
dass das Menschenbild, das die Hirnforschung uns zum sozialen Verhalten
der Menschen liefert, nicht besonders revolutionär ist. Das
kann man nur unterstreichen. Ich hatte auch schon bei den
vorausgehenden Kapiteln bisweilen den Eindruck, dass die oft mit
großem Aufwand betriebenen Forschungen letzten Endes immer
nur auf Binsenweisheiten hinauslaufen. Als Beispiel sei hier nur das
Menschenbild angeführt, das die Neurowissenschaften uns zum
sozialen Verhalten nahe legen. "Das Individuum und der Andere
müssen so weit wie möglich aufeinander zugehen, dabei
aber akzeptieren, dass es immer einen Unterschied zwischen ihnen gibt."
Nun geht es im sechsten Kapitel schließlich um das
eigentliche Thema des Buches: Ist der Mensch noch frei? Martin Hubert
zitiert die Hauptargumente beider Denkrichtungen, der deterministisch
orientierten und derjenigen, die dem Menschen einen
freien Willen
zugestehen möchte. Und auch hier kommt der Autor wiederum zu
der Erkenntnis, dass die Wahrheit wohl in der goldenen Mitte liegen
mag. "Freiheit ist mehr als nur eine Fiktion, und trotzdem
müssen wir uns ganz illusionslos mit einem sehr engen
Verständnis von Willensfreiheit anfreunden." Die eng mit dem
Problem der Willensfreiheit verknüpften Fragen nach der Moral,
dem Gewissen, der Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit des
Menschen werden in diesem Kapitel ebenfalls ausgiebig zur Diskussion
gestellt.
Bleibt nun noch das mit "Fazit: Gehirn oder Seele?"
überschriebene kurze Schlusskapitel. Es bietet noch einmal
eine Zusammenfassung und Rekapitulation dessen, was in den sechs
Kapiteln des Buches aufgearbeitet wurde und riskiert auch einen Blick
in die Zukunft der Neurowissenschaften. Wie wird das
zukünftige Menschenbild aussehen? Dabei werden, wie auch schon
im gesamten vorausgehenden Text, philosophische Aspekte mit in die
Betrachtungsweise einbezogen.
Mein persönliches Fazit fällt gespalten aus, doch
summa summarum eher positiv. Einerseits sind die Ergebnisse der neuen
Hirnforschung, die uns hier präsentiert werden, alles andere
als spektakulär, und von daher mag der eine oder andere Leser
in seiner Erwartung ein wenig enttäuscht werden. Andererseits
hat es der Verfasser verstanden, relativ komplizierte Sachverhalte
allgemeinverständlich darzustellen. Und Martin Hubert
hält sich dabei an halbwegs gesicherte Fakten und erliegt
nicht der Versuchung, ins rein Spekulative oder gar ins Mystische
abzudriften. Abbildungen und Skizzen erleichtern das
Verständnis, wenn es um die rein biologischen, anatomischen
Zusammenhänge geht. Der Leser benötigt also weder
besondere medizinische noch philosophische Vorkenntnisse, zudem ist das
Buch flüssig, locker und durchaus interessant geschrieben. Im
Anhang findet man die Anmerkungen zum Text sowie ein
ausführliches Literaturverzeichnis.
(Werner Fletcher; 09/2006)
Martin
Hubert: "Ist der Mensch noch frei?"
Walter, 2006. 240 Seiten.
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