Helmut Braun: "Ich bin nicht Ranek"
Annäherung an Edgar Hilsenrath
Edgar
Hilsenraths mühsamer Weg zu den Deutschen
Lang und gewunden war Edgar Hilsenraths Weg nach Berlin, und
doch wusste er bereits im Vorschulalter, beeindruckt von Schilderungen
der Reichshauptstadt, dass er einmal dorthin reisen würde.
Der Schriftsteller wird 1926 in Leipzig als Sohn eines
jüdischen Einzelhändlers geboren. Wenig
später zieht die Familie nach Halle an der Saale um. Bald nach
Edgars Einschulung kommt Hitler an die Macht, und als einziges
jüdisches Kind in seiner Klasse muss Edgar
widerwärtige Schikanen und Erniedrigungen über sich
ergehen lassen. Das Geschäft des Vaters wird arisiert;
umsichtig schickt David Hilsenrath noch vor der Reichskristallnacht
seine kleine Familie in die galizisch-rumänische Heimatstadt
seiner Frau, Siret. Im Schtetl, bei den Großeltern, erlebt
Edgar ein paar recht unbeschwerte Jahre, bis die Rumänen
beginnen, die jüdische Bevölkerung zu deportieren.
Über Umwege gelangt Edgar Hilsenrath ins berüchtigte
Getto von Mogilev-Podolsk; dort werden die Juden bewusst dem Tod durch
Erfrieren und Verhungern preisgegeben. Aufgrund einiger
glücklicher Fügungen überleben Hilsenrath
und seine Familie, und sie gelangen nach der Befreiung durch die Russen
nach Siret zurück. Während Mutter und Bruder zum
Vater nach Frankreich ausreisen, emigriert Edgar Hilsenrath nach
Palästina. Doch die dort eskalierende Gewalt
stößt ihn ab. Ende 1947 zieht er zur Familie nach
Frankreich.
Hilsenrath, der begonnen hat, sich seine Getto-Erlebnisse von der Seele
zu schreiben, möchte Schriftsteller werden, doch sein Vater
widersetzt sich diesem Ansinnen vehement. Schließlich, 1951,
wandert Hilsenrath in die USA aus. Auch hier lebt er von einfachen
Aushilfstätigkeiten, beispielsweise als Kellner, und beendet
in seiner Freizeit den Gettoroman "Nacht". Während er mit
einer Veröffentlichung in Deutschland kein Glück hat,
werden "Nacht" und Hilsenraths nächster Roman "Der
Nazi & der Frisör" in den USA und einigen
europäischen Ländern große Erfolge.
Aber der Autor möchte dorthin zurück, wo seine
große Liebe lebt, die deutsche Sprache. 1975 trifft er in
Berlin ein. Er baut sich eine bescheidene Existenz auf und findet
schließlich einen mutigen Kleinverleger, den Autor der
vorliegenden Biografie. Und nun wendet sich das Blatt: Hilsenrath wird
in Deutschland bekannt und geschätzt. Ein Großverlag
übernimmt schließlich Hilsenraths Werke. Der Autor,
dessen Romane in den Sechzigern für das deutsche Publikum
angeblich nicht zumutbar waren, erhält Ehrungen zuhauf. Und
das zeigt, dass sich Hilsenraths große Liebe erfüllt
hat: Er wird zurückgeliebt.
Anhand einer Vielzahl persönlicher Dokumente des Autors und
eigener Erfahrungen mit seinem langjährigen Verlagsautor und
Freund zeichnet Helmut Braun ein farbiges Lebensbild des
außergewöhnlichen Schriftstellers Hilsenrath.
Einfühlsam und sorgfältig geht der Biograf den
Weichenstellungen und Motiven in Hilsenraths Leben und dem der Personen
aus seinem engeren Umfeld auf den Grund, wobei er häufig
Auszüge aus Hilsenraths autobiografienahen Romanen einflicht,
die sehr unmittelbar bedeutsame Situationen aus Hilsenraths Vita
schildern und in denen immer wieder Hilsenraths dunkler Humor
aufblitzt. Edgar Braun vollzieht zudem mit einigem Sarkasmus die
Entwicklung nach, derer Deutschland bedurfte, bis es - zumindest in den
Augen der Verlagsleute - reif für den Autor Edgar Hilsenrath
war, der die Shoa auf so ungewöhnliche Weise, nämlich
mittels der Satire, aufarbeitete. Als er wiederum die orientalische
Märchenkunst als Medium für
sein
Buch über den in der Türkei an den Armeniern
verübten Genozid wählte, stieß er
auch damit in Deutschland zunächst auf Unverständnis
und Widerstand, während er für die Armenier selbst zu
einer Art Nationalheiligem wurde.
Das Buch ist sehr ansprechend und hochwertig aufgemacht und
enthält zahlreiche Fotografien und Abbildungen von
persönlichen Dokumenten. Zu bemängeln wäre
allenfalls das nicht sehr sorgfältig vorgenommene Korrektorat.
Hilsenrath, eine facettenreiche Persönlichkeit; der
Getto-Überlebende mit dem verschmitzten Lächeln, der
materiell völlig anspruchslos gebliebene Bestsellerautor, der
Frauenliebling, dessen Liebe der deutschen Sprache gehört:
sein Leben und sein Werk repräsentieren auf einzigartige Weise
auch achtzig Jahre deutscher und europäischer Geschichte.
(Regina Károlyi; 10/2006)
Helmut
Braun: "Ich bin nicht Ranek. Annäherung an Edgar Hilsenrath"
Dittrich-Verlag, 2006. 288 Seiten.
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Helmut Braun wurde 1948 in Franken geboren. Verleger, Herausgeber, Publizist. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Leben und Werk von Rose Ausländer, u. a. die Biografie "Ich bin fünftausend Jahre jung". Herausgeber des Gesamtwerkes der Dichterin und ihr Nachlassverwalter. Autor von Rundfunksendungen für DLF, DLR, WDR, BR und DRS. Zur Zeit gibt Helmut Braun im Dittrich-Verlag die Edgar Hilsenrath Werkausgabe in elf Bänden heraus.