Edgar Hilsenrath: "Das Märchen vom letzten Gedanken"
Bedrückender
Roman über das Schicksal der Armenier im Ersten Weltkrieg
Der letzte Gedanke, so besagt es ein Märchen, steht
außerhalb der Zeit. Er erzählt dem sterbenden
Armenier Thovma Khatisian, der 1915 während der Vertreibung
und Vernichtung der Armenier geboren, von Türken gerettet und
schließlich als Waise in die
Schweiz gebracht wurde, die
mögliche Geschichte seiner Eltern und Großeltern und
seiner eigenen Geburt. Thovma könnte von Bauern aus einem
Bergdorf abstammen, von einem jungen Witwer, der nach Amerika
ausgewandert ist und 1914 zurückkehrt, um ein einheimisches
Mädchen zu heiraten, und der in den Würgegriff der
türkischen Willkürjustiz jener Zeit gelangt, weil er
zur falschen Zeit am falschen Ort war - wie eigentlich alle Armenier.
Die Armenier stellten verhältnismäßig viele
geschickte und erfolgreiche Handwerker, Ärzte, Apotheker und
Geschäftsleute, auch wenn die meisten von ihnen als einfache
Bauern und überwiegend in gutem Einvernehmen mit ihren
türkischen Nachbarn lebten. Da die Schicht wohlhabender
Armenier Neid erzeugte und das Osmanische Reich an inneren Krisen zu
zerbrechen drohte, brachte die Regierung durch geschickte Verdrehung
der Tatsachen ein künstliches Feindbild von den Armeniern
unter das Volk, während sie die Armenier durch falsche
Versprechungen in Sicherheit wiegte. Als die türkische
Polizei, das Militär und andere willige Büttel der
Regierung, darunter räuberische Kurdenstämme aus den
Bergen, gegen die Armenier losschlugen, gab es praktisch keine
Gegenwehr. Massenhaft hingerichtete Männer und eine so
genannte Umsiedlung waren die Folge. Die Umsiedlung bestand daraus,
dass Alte, Kinder und vor allem Frauen auf einem Treck entweder
ständig im Kreis, in die Berge oder in die Wüste
geschickt wurden, immer wieder ausgeraubt, vergewaltigt, ohne Essen und
Trinken, aus Lust und Laune misshandelt und massakriert, bis die
letzten in syrischen Lagern starben.
Der letzte Gedanke führt Thovma zurück in die
armenische Geschichte, die schon vor 1915 mit Pogromen und
Massentötungen vertraut war, lässt ihn auch bei
glücklichen Zeiten mit Feiern und der Pflege traditionellen
Brauchtums verweilen, bindet in sein Märchen alte armenische
Märchen ein, wie das im Orient üblich ist, und muss
doch immer wieder Thovmas gequälten Vater und seine
während der Vertreibung bereits hochschwangere Mutter
aufsuchen, deren Schicksal im Zentrum der Erzählung steht -
wen wundert’s, hat Thovma doch sein Leben lang nach seinen
Wurzeln gesucht, denen er nun begegnet. Ob sich die Geschichte seiner
Eltern so abgespielt hat, ist ohne Bedeutung, weil sich fast alle
armenischen Schicksale jenes Jahres 1915 ähneln. Und weil
jeder weiß, dass damals etwas Unsägliches geschehen
ist, aber keiner etwas darüber erfahren möchte. Denn
das Flüstern der toten Armenier könnte ansteckend
sein, über die Landesgrenzen dringen und überall
gehört werden. Welchen Sinn hätten schon die daraus
resultierenden Alpträume, fragt der Minister, den der letzte
Gedanke besucht.
In der belletristischen und Sachliteratur wird der erste Genozid des
20. Jahrhunderts, nämlich jener an den Armeniern in der
Türkei während des Ersten Weltkriegs,
äußerst selten thematisiert. Umso mehr erstaunt es
auf den ersten Blick, wenn ein deutschsprachiger Jude, zumal ein
Holocaust-Überlebender, den Massenmord an rund 1,5 Millionen
Armeniern nach gründlicher Recherche zur Grundlage eines
Romans macht.
Auf den zweiten Blick erweist sich der Zusammenhang als logisch, denn
Hilsenrath zeigt in seinem Roman mehr oder weniger direkt - und
manchmal vielleicht etwas zu nachdrücklich für den
Märchenkontext - auf, dass Hitler die versuchte Ausrottung der
Armenier in vielen Details kopierte und es auch sonst viele Parallelen
gab; selbst eine Art Wannsee-Konferenz mit Beschluss der
"Endlösung" fand bezüglich der "armenischen Frage"
statt. Die Leidenswege gleichen sich erschreckend.
Doch Hilsenrath hat keinen biografischen Roman geschrieben, sondern
sich an die Form des orientalischen Märchens angelehnt. Der
letzte Gedanke schwebt federleicht auf mäandernden Wegen und
scheinbar objektiv-analytisch über dem entsetzlichen Treiben
und verleiht ihm die verschwommenen Konturen eines Aquarells,
wenngleich in kräftigen Farben. Und so blickt auch der Leser
von oben auf ausgelassene Hochzeiten, liebenswerte religiöse
und abergläubische Rituale, hingebungsvoll und mit Fantasie
erdachte Foltermethoden,
absurde, erpresserische Verhöre und schließlich den
Holocaust, wie Hilsenrath den Genozid treffend bezeichnet. Entgeistert,
erschreckt, trotzig und schließlich resigniert tappt Thovma
Khatisians Familie durch die Ereignisse, die auf sie
einstürzen.
Die Anklage ist unübersehbar, aber sie richtet sich nicht
allein gegen die Türken, auch nicht nur gegen Türken
und Deutsche zusammen, sondern gegen jegliche Form des Terrors gegen
Bevölkerungsgruppen. So kann man "Das Märchen vom
letzten Gedanken" als ein elegantes, filigran gearbeitetes Mahnmal
wider den Völkermord, den blinden Hass und Neid und
unterdrückerische Regimes verstehen.
Vor dem Umfang des Buchs sollten potenzielle Leser indes nicht
zurückschrecken: Hat man einmal mit der Lektüre
angefangen, so fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu
legen; es handelt sich nun einmal trotz der bedrückenden
Thematik um ein packendes, bezaubernd erzähltes
Märchen.
(Regina Károlyi; 07/2006)
Edgar
Hilsenrath: "Das Märchen vom letzten Gedanken"
dtv, 2006. 640 Seiten.
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