Stefan Heym: "Ahasver"


Einem möglichst zeitlosen Thema schien sich Stefan Heym in den späten 1970er-Jahren annehmen zu wollen, und zugleich einem, das ihm zur Beschäftigung mit seiner jüdischen Herkunft diente. Jedenfalls kam er auf den Mythos vom Ewigen Juden, der mindestens seit dem Spätmittelalter in verschiedenen Varianten und Namen, bis zur Gründung des Staates Israel nicht zuletzt als Symbol für das uralte, heimatlose jüdische Volk an sich, durch die europäische Literatur geistert. Der schließlich auserwählte Name Ahasver findet sich zum ersten Mal im Alten Testament, und kein Hebräer ist der Träger, sondern der Perserkönig Xerxes 1. im Buche Esther. Auftaucht der Name etwa auch in einer Schrift aus dem Jahre 1602, einem Bericht über die 1542 stattgefundene Begegnung zwischen dem Superintendenten von Schleswig-Holstein, Paulus von Eitzen, und Ahasverus, dem ewigen Juden, welcher einst als Schuster in Jerusalem lebte, es dem mit dem Kreuz auf dem Weg nach Golgotha befindlichen Jesus verweigerte, sich kurz im Schatten seines Hauses zu erholen, und dafür von diesem dazu verdammt wurde, bis zu seiner, Jesu, Wiederkehr rastlos über den Erdball zu wandern.

Diese Geschichte macht Heym zu seinem Ausgangspunkt und zu einem von drei einander von Anfang bis Ende seines Buches abwechselnden Handlungssträngen; er erzählt die wichtigsten Ereignisse im Leben des Paul von Eitzen, von seiner Fahrt als junger Hamburger Kaufmannssohn nach Wittenberg, um dort bei Melanchthon die neue, Lutherische Theologie zu studieren (und er dorten nicht nur den Doktor Luther, sondern sogar den Teufel trifft), von schweren Prüfungen, politischen und privaten Begebenheiten, von seinen Taten als Bischof bis hin zu seinem Tod, welcher für das Jahr 1598 verbrieft ist. Der Autor hat sich mit Eitzen und seiner Zeit ausführlich beschäftigt, die realistische psychologische Zeichnung des Bischofs und Superintendenten, eine wuchtige Sinnlichkeit in den Szenen und die an das damalige Deutsch angelehnte Syntax beschwören überzeugend die reformatorische norddeutsche Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts.

Die zweite Geschichte spielt in des Autors schreibender Gegenwart; zwischen dem Ostberliner Professor für Atheismusforschung Breitfuß und seinem Jerusalemer Kollegen Leuchtentrager entspannt sich ein Briefwechsel, der die verschiedensten (Geschichte, Literatur, Naturwissenschaft, Politik ...) Aspekte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Mythos des Ewigen Juden streift, viel Sinn für Humor zeigt und geradezu profetisch zum Jahreswechsel 1980/81, keine zehn Jahre also, bevor die gesamte DDR zum Teufel ging, endet.

Die dritte Stimme schließlich in der Heymschen Fuge entbehrt gewissermaßen der Zeit, ist im Raum der reinen geistigen Prinzipien angesiedelt. Heym spekuliert darin frei und bisweilen wild über Themen wie den Ursprung der Welt und des Bösen, Rebellion, Gerechtigkeit und den Messias, lässt Ahasver und Luzifer, Jesus und Gott miteinander in Dialog treten und erlaubt sich, mit Bibelstellen so zu verfahren wie mit den über Eitzen zusammengetragenen Materialien, sie nämlich nach seinem Sinn, kompromisslos und bar jeder Dogmatik, auszuschmücken und zu ergänzen, was beinahe zwangsläufig des Lesers Stellungnahme und Kritik herausfordern wird. Der Roman, der mit der Verstoßung der Engel, die sich weigern, den Menschen als Gottes Ebenbild anzubeten, beginnt, schließt in einer Apokalypse großen Stils, die Heym unmissverständlich mit dem größten politischen Problem seiner Zeit, dem atomaren Wettrüsten zwischen den Supermächten, in Verbindung bringt.

In Ahasver sieht Heym vor allem das revolutionäre Prinzip; wo der Teufel sein kategorisches Nein zu Gottes Schöpfung spricht, findet Ahasver sie missraten und sucht sie radikal zu verbessern, das Unterste soll zuoberst gekehrt werden, was eine gewisse Neigung zur Kunst ebenso wie zum Waffengebrauch bedingt. Letzterer hat bereits in der Vergangenheit zu einer Gleichsetzung vom Ewigen Juden mit Judas Ischariot (unter Anderen auch mit dem Evangelisten Johannes, dem Profeten Elias und dem von Simon Petrus um ein Ohr gekürzten Beamten) geführt, bei Heym verlangt Ahasver von den dreißig Silberlingen des Judas einen als Schweigegeld. Ob man diese oder jene Wendung mehr oder weniger gelungen findet, in der Summe der Eindrücke und besonders in der ästhetischen Stimmigkeit seines polyfonen Entwurfs ist "Ahasver" von Stefan Heym ein Fantasie und Denken anregendes, kraftvolles, kühnes und kluges Buch.

(fritz)


Stefan Heym, am 10. April 1913 als Helmut Flieg in Chemnitz geboren, emigrierte anno 1933, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. Von 1937 bis 1939 war er Chefredakteur der Wochenzeitung "Deutsches Volksecho" in New York; seit 1939 Soldat.
In den 1950er-Jahren, gefährdet durch die Intellektuellenhatz des Senators McCarthy, kehrte er nach Europa zurück. Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte er in München. Er war Mitbegründer der "Neuen Zeitung", wurde wegen prokommunistischer Haltung in die USA zurückversetzt und aus der Armee entlassen. Aus Protest gab er Offizierspatent, Kriegsauszeichnungen und USA-Bürgerschaft zurück und übersiedelte nach Berlin/Ost, wo er Zuflucht - aber auch neue Schwierigkeiten - fand. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er international bekannt und gilt heute als einer der erfolgreichsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Stefan Heym starb am 16. Dezember 2001.