Rainer Decker: "Hexen - Magie, Mythen und die Wahrheit"
Über die Urangst vor dem Faszinosum Frau
Die Vorstellung von mächtigen,
übernatürlichen, Unheil bringenden Frauen ist so alt wie die
Menschheitsgeschichte selbst. Quer durch Kulturen und Kontinente zieht sich
dieser Archetypus. Teils mag diese Vorstellung in unserem kollektiven
Unterbewusstsein verwurzelt sein, teils in archaischen Kulten, teils im
Aberglauben. Die Reihe dämonischer Frauenfiguren reicht von
Lilith, Adams
ungehorsamer erster Gefährtin, bis zu Carmilla, der Jungfrauen verführenden
Vampirin beim Romancier Sheridan LeFanu. Rainer Deckers Interesse gilt einer
ganz speziellen Gattung dieser "Unheilsbringerinnen", den so genannten
Hexen.
"Hexe" rührt her vom althochdeutschen hagsuzza, was soviel
wie "Heckensitzerin" bedeutet. Der Volksglaube sah in der Hecke eine Art
Weltentor, auf der die Zauberin sitze, während eines ihrer Beine im Diesseits,
das andere in der jenseitigen Anderswelt stehe. Je nach Ort und Zeit wurden
Hexen unterschiedliche Namen wie Attribute zuteil. Die Holda der Germanen
(später im Märchen als
Frau Holle
auftauchend) verhielt sich dem Menschen gegenüber ambivalent, sie strafte die
Faulen und Feigen und belohnte die Fleißigen und Tapferen. Oft zog sie mit ihrer
Schar durch die Lüfte, was wahrscheinlich dem Aberglauben vom Besenritt Vorschub
leistete. Im antiken Rom kannte man Hexen unter dem Sammelbegriff strega,
meist waren Giftmischerinnen damit gemeint.
Interessant war die
Rechtsprechung der frühmittelalterlichen Germanenstaaten. In der Lex Salica des
Fränkischen Reiches (6. Jh.) wurde die Strafandrohung für "eine Hexe, die einen
Mann isst" niedergeschrieben. Ein Gesetz, auf das sich Karl der Große noch 300
Jahre später beziehen sollte. In der Lex Alamannorum (7. Jh.), dem Kodex der
Alemannen, hingegen wird nicht die Hexe verfolgt, sondern derjenige, der eine
Frau (ohne ausreichende Beweise) als solche bezeichne. Ebenso verbietet das Lex
Langobardorum (7. Jh.), das Gesetz der Langobarden, ausdrücklich die Tötung von
Sklavinnen oder Mägden als "stria". Der Hexenglaube wurde von der
römisch-katholischen Kirche als unchristlich betrachtet, als heidnischer
Mumpitz; eine Sichtweise, die sich über Jahrhunderte halten sollte.
Erst
als die großen religiösen Gegenkräfte der Katharer, Waldenser und
Templer
im 13./14. Jh. vernichtet waren, suchte die Inquisition, das international
tätige Glaubensgericht des Papstes, nach neuen Beschäftigungsfeldern und fand
solche im Kampf gegen das vermeintliche Hexenunwesen. "Schadenszauber" würde
durch Hexen gewirkt, welcher Ernten vernichtet, Flüsse verpestet als auch Mensch
und Tier krank macht. Besonders ein Mann tat sich bei diesem Wahnwitz der Kirche
hervor, der Dominikanermönch Heinrich Kramer, vulgo Institoris. Oft gegen den
Willen örtlicher Bischöfe hetzte er den Mob auf und förderte das
Denunziantentum. Institoris war ein Frauenhasser ersten Ranges. Schon im
lateinischen Wort für Frau, femina, sah der verklemmte Büßer
Lästerliches. Absurd leitete er ab, "fe" (von fides= Glauben) und "mina"
(von minus = weniger) offenbare, dass Frauen von Natur "weniger Glauben"
haben als Männer; Urmutter Evas Sündenfall wäre dafür das beste Beispiel
gewesen. In einer Klosterklause verfasste Institoris den
"Hexenhammer"
("Malleus maleficarum") von 1487, ein Druckwerk, das ebenso akribisch wie
abstrus darlegt, wie Hexen zu erkennen respektive zu vernichten wären. Die
Folter erachtete der Dominikanerpater als völlig legitim. Gefinkelt
überantwortete er Frauen der weltlichen Gewalt, um ihnen eine Chance auf
Vergebung nach dem Kirchenrecht a priori zu verwehren.
Mit seinem Tod im
Jahr 1505 nahm die Hexeninquisition vorerst schlagartig ein Ende. Doch der von
ihm gesäte Samen der Misogynie ging auf. Bis 1523 wurde der "Hexenhammer"
erstaunliche 13mal neu aufgelegt. Nicht nur die Katholiken verfielen der
Hexenhysterie, sondern auch die Protestanten.
Martin
Luther selbst polterte 1526 in einer Predigt über "Hexen": "Sie sind zu
töten ..."
Rainer Decker zeigt in "Hexen - Magie, Mythen und die
Wahrheit" überraschend, dass der Aberglauben an Kinder fressende,
mit dem Teufel
Orgien zelebrierende Hexen nicht eine Ausgeburt des scheinbar so finsteren
Mittelalters war, sondern - ganz im Gegenteil - erst in der Neuzeit, in der Ära
von Renaissance und Humanismus Fuß fasste.
Mit Hexen wurde bis zum
Greifen der Aufklärung über die nächsten zwei Jahrhunderte "kurzer Prozess"
gemacht, d.h., aufgrund ihres "Sonderverbrechens" verwehrte die
weltliche Gewalt
eine juristische Verteidigung im üblichen Sinne. Unter der Tortur der Folter
gestanden fast alle Unglücklichen "Teufelspakt", "Buhlschaft" oder andere Arten
der Blasphemie. Die Scheiterhaufen brannten lichterloh - und zwar dort am
stärksten, wo der Landadel oder fanatisierte Mönche das Sagen hatten. Immer mehr
wurden auch Männer der Hexerei bezichtigt und verurteilt. In der Schweiz
denunzierten Eltern sogar ihren eigenen Nachwuchs. Die Todesstrafe für
"Hexenkinder" bestand aus Vergiften oder Aderschnitt. Erstaunlicherweise blieb
die Hexenverfolgung dort am schwächsten, wo man sie als allgegenwärtig vermutet
hätte: in Spanien und Italien, den Hochburgen des Katholizismus. Bereits 1631
hatte der Jesuit Friedrich Spee anonym die Schrift "Cautio Criminalis"
wider die Hexenprozesse veröffentlicht. Nach 1650 ging das Papsttum sogar aktiv
gegen den Hexenwahn vor. Freilich dauerte das Wüten in Europa noch an. Erst Ende
des 18. Jh. erloschen die letzten Scheiterhaufen.
Goethe romantisierte
die Hexen späterhin, gab ihnen mit dem Tanz am Blocksberg zu Walpurgis oder der
Lust am Hexensabbat einen neuen, erotisch umkränzten Nimbus, verführerischen
Göttinnen gleich. Anders das Bild der Hexe, 1812 durch die Gebrüder Grimm
niedergeschrieben. Buckelig, mit langer Nase, fauligen Zähnen und schriller
Stimme - so präsentierten sie ihre Version in "Hänsel und Gretel" - eine
Vorstellung, die in der Kinderwelt bis heute erhalten blieb.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine neuheidnische Reinterpretation
der Hexenverfolgungen. Zum einen in England durch die
Wicca-Religion,
welche in den witches Priesterinnen einer uralten Muttergottheit sieht,
die der Verfolgung des christlichen Patriarchats ausgesetzt waren und sind.
Zum anderen durch okkultistische Nazis wie den Reichsführer SS Heinrich Himmler,
der ab 1935 eine eigene Geheimabteilung zur "Hexenforschung" anstellte. Himmler
glaubte, mütterlicherseits selbst von der als Hexe verbrannten Margareth Himbler
abzustammen. Für ihn waren Juden und Jesuiten die Dunkelmänner hinter den "ungezählten
(...) zermarterten und zerfetzten Leibern der Mütter und Mädchen" des deutschen
Volkes, die in "Hexenprozessen zu Asche verbrannten". Freilich gelang Himmler
keinerlei Beweis, dass die Juden oder Jesuiten Urheber der Hexenverfolgungen
gewesen wären, noch konnte er seine Fantasiezahl von neun Millionen ermordeten
"Hagdisen" (= Hexen) auch nur annähernd belegen. Die obskure "Hexenforschung"
des III. Reichs ging 1945 im Bombenhagel unter.
Rainer Deckers Nachforschungen sind hingegen lebendig wie seriös
erzählt und gewähren einen guten historischen Überblick. Weitere Pluspunkte: die
reiche Bebilderung des Buches samt der alternierenden Form von "Hexen - Magie,
Mythen und die Wahrheit" als DVD.
(lostlobo; 04/2004)
Rainer Decker: "Hexen - Magie, Mythen
und die Wahrheit"
Primus, 2004. Etwa 128 Seiten mit ca. 80
Abbildungen.
ISBN 3-89678-247-9.
ca. EUR 24,90.
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DVD:
ca. EUR 19,99.
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Rainer Decker, Dr. phil., geb. 1949,
ist Fachleiter für Geschichte am Staatlichen Studienseminar in Paderborn. Seit
rund 25 Jahren erforscht er die Hexenprozesse in Deutschland und Italien und hat
dazu zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Im Primus Verlag erschien 2003
"Die Päpste und die Hexen".
Ergänzender Buchtipp:
Rainer
Decker: "Die Päpste und die Hexen. Aus den geheimen
Akten der Inquisition"
Seit dem Jahr 1998 haben Wissenschaftler Zugang
zum Archiv des Heiligen Offiziums. Die fast vollständig erhaltenen Protokolle
der Sitzungen der obersten Inquisitionsbehörde, die sogenannten Decreta, geben
dabei wichtige Einblicke in die Rolle, die die Päpste bei den Hexenprozessen
spielten: Denn bei Zweifelsfragen oder in wichtigen Fällen ließen sich Papst und
Kardinäle die Prozessakten schicken und bestimmten dann das weitere Verfahren,
bis hin zu den Strafen. Rainer Decker zeigt, dass nicht die Päpste die radikalen
Hexenverfolger waren, sondern andere Institutionen als Scharfmacher fungierten:
lokale geistliche und vor allem weltliche Richter, ganz abgesehen von der Masse
der Bevölkerung, die Sündenböcke suchte. Der Nachweis wird anhand zahlreicher
konkreter Fallbeispiele aus mehreren Jahrhunderten und aus ganz Europa geführt.
Auf diese Weise werden grundlegende Einblicke in Entscheidungsfindung, Wandel
und Beharren im Denken der römischen Glaubenswächter möglich. Erste wichtige
Ergebnisse liegen vor und tragen bei zum Abbau alter Klischeevorstellungen über
"die" Inquisition und ermöglichen ein differenzierteres Bild einer prägenden
Institution des neuzeitlichen Europa.
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