Alban Nikolai Herbst: "Eine Sizilische Reise"
Mehr als Landschaften, Mythen
und Bauwerke!
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile ...
Ein Namenloser, der sich seiner Vergangenheit
nicht entsinnen kann, bereist - sozusagen in geheimer Mission - Sizilien (er
soll einen Stein nach Noto bringen, diesen dort einer Kontaktperson übergeben
und sich im übrigen unauffällig, wie ein Tourist eben, benehmen), mutiert zum
Werwolf und begegnet zweimal seinem Schöpfer, den er letzten Endes nicht einmal
sonderlich sympathisch findet, doch ihm sein Leben lässt. Aber lassen wir den Ich-Erzähler doch gleich einmal selbst
zu Wort kommen: "Ich treffe in Enna eine Mumie aus Palermo, die plötzlich
ziemlich lebendig ist, finde einen abgeschnittenen Kopf, eine junge Dame
verwandelt sich vor meinen Augen in Wasser, als ich mit einem Paddelboot auf
Zeitreise bin, man bringt zweimal hintereinander denselben Mann um, jedesmal bin
ich Zeuge, und dann wird auch noch geschossen auf mich."
Der Mann ist selbstverständlich kein
"gemeiner" Rucksacktourist, sondern gehört als Figur zu einem
komplexen Netzwerk von Verbündeten und Widersachern innerhalb eines
Echtzeit-Spieles - (Kennern der Herbst'schen Romangefüge sind derartige
Szenarien nicht fremd, vielmehr sehnt ein solcher Liebhaber der
Herbst'schen
Welten eine kunstvolle Gabelung des Geschehens geradezu herbei!) - bei dem es
unter anderem darum geht, die in alle Winde zerstreuten 49 Teile eines mystischen
Steines ("Stein der Idäischen Mutter") des Demeter-/Venuskultes wieder zusammenzufügen, und dies alles unter
der sengenden Sonne Siziliens.
Die Reise beginnt 3178 Jahre nach dem Fall
Trojas (also im Jahr 1994 christlicher Zeitrechnung), am 13. August, somit knapp vor dem Ferragosto, in Neapel auf einer
Fähre, die nach Palermo unterwegs ist. Und bereits hier fühlt sich der
Erzähler, der übrigens leidlich Italienisch spricht, von telefonierenden
Männern verfolgt. Wieder festen Boden unter den Füßen, weiß er, dass er
einen gewissen Arndt, seines Zeichens Menschenjäger, treffen soll. In langen
Spaziergängen durch die Stadt, auf der Suche nach einer Unterkunft, gibt er
sich den sizilischen Impressionen hin. Die Beschreibungen der Landschaft, der
Geschichte, der Menschen und Baulichkeiten bis ins kleinste Detail gehören denn
auch zu den prägenden Stilmitteln, derer sich Alban Nikolai Herbst im weiteren
Verlauf bedient. Beinahe sieht man den Ich-Erzähler durch die Hafenquartiere,
die engen Gassen, die Märkte schlendern, man vermeint, die verheerenden Waldbrände zu
riechen; zumindest hat man beim Lesen das Gefühl, die Gestalt des Erzählers unmittelbar mit dem
Finger auf den Straßenkarten der beeindruckend lebendig beschriebenen Orte
ausfindig machen und leibhaftig
begleiten zu können. Man schwitzt bei Temperaturen um 40°C mit dem wundersamen
Gejagten, studiert wie er die Bus- und Zugfahrpläne, genießt
Unmengen von Caffè und Wein mit ihm, leistet ihm bei gar manchem Rausch
Gesellschaft, schüttelt manchmal perplex den Kopf mit ihm (beispielsweise
angesichts geheimnisvoller Rituale), und - es soll nicht verschwiegen werden -
bisweilen auch über ihn.
Vorerst geht es hinab in die Katakomben, an den
Ort morbider Sehenswürdigkeiten, wo der Erzähler von Sig. Antonino Prestigiacomo
angesprochen wird. Dieser taucht zu anderen Zeiten, andernorts unter anderen
Namen wieder an der Seite unseres Reisenden auf, als mitunter gnadenloser
Schutz- und Racheengel des Erzählers sozusagen. Nicht weiter bemerkenswert,
denken Sie? Weit gefehlt, denn der Mann hat anno 1844 das Zeitliche
gesegnet! Zweifelt der Ich-Erzähler selbst auch später wiederholt an seiner
Wahrnehmung, die jene eines - wir nannten ihn vorhin bereits so -
"gemeinen" Touristen bei weitem übersteigt, profitiert der Leser der
"Sizilischen Reise" in mindestens demselben Ausmaß von den
Erscheinungen, den Zeitschleifen, den unterhaltsamen, bisweilen beklemmenden
déjà-vu-Erlebnissen, der wortgewordenen Magie dieser hintergründigen
Kulturlandschaft, welche sich den oberflächlichen
Sehenswürdigkeiten-Abklapperern niemals erschließen.
Weitere Handlungsträger der Geschichte sind
die Danaerin wandelbaren Alters, Frau Jördsdóttir (von umfassend Orientierten auch
Madame Tanit
genannt), die drei unvermeidliche weiße Hunde mit sich führt, und die dem
Erzähler kürzlich eine aus Palermo stammende Grabplatte, mit - sonderbar genug - dem
Relief eines Werwolfs darauf, in ihrem Schlafgemach in Olevano zeigte, woraufhin
sich der Erzähler umgehend entschloss, nach Sizilien zu reisen, wo er dieser
Dame sowie ihren Mitspielern abermals begegnet; dann sind da noch der
verlässlich an seinem Anorak und seiner Aktentasche (mit - wie sich
herausstellt - sonderbarem Inhalt) erkennbare Prager namens
Vesely, die aufdringliche Kurzzeit-Reisegefährtin Waltraud, die gegen Ende
ermordet aufgefunden wird, die unergründlich-erotische Ciane sowie ein
doppelter Holländer.
Wunderbar beschreibt Alban
Nikolai Herbst die Wolfwerdung des Ich-Erzählers: Die Verschiebung der
sinnlichen Wahrnehmungen, die Verwilderung des Befindens, das Fellwachstum, die
Vereinfachung des Denkens auf das überlebensnotwendige Ausmaß. Bemerkenswert,
dass der Ich-Erzähler die Verwandlung seiner Gestalt ohne jede Gemütsregung
beobachtet, ja lediglich zur Kenntnis nimmt und in Wolfsgestalt Teil einer
kultischen Handlung wird.
"Eine Sizilische Reise" ist die
höchst gelungene Verschmelzung der für einen Reisebericht gehobenen Anspruchs
typischen Elemente mit jenen einer fantastischen, spannenden
Geschichte.
(kre; 06/2002)
Alban Nikolai
Herbst: "Eine Sizilische Reise"
Gebundene Ausgabe:
Axel Dielmann Verlag, 2001.
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Taschenbuch:
dtv, 2002. 251 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Daniela Schetar, Friedrich Köthe: "Sizilien - Egadische, Pelagische und
Liparische Inseln"
Viele verbinden mit Sizilien nur den Begriff "Mafia", doch Italiens südlichste
Provinz nur als Brutstätte der ehrenwerten Gesellschaft zu sehen, hieße, ihr
Unrecht zu tun und sich selbst um das Vergnügen zu bringen, ihre faszinierende
Schönheit zu entdecken. Mit Kriminalität ist der Reisende auf Sizilien ebenso
oft oder selten konfrontiert wie im übrigen Italien.
Dieses Buch ist in vier Teile gegliedert:
Im ersten Abschnitt ist zusammengestellt, was an praktischen Informationen vor
und während der Reise nötig und sinnvoll erscheint.
Der zweite Teil beschreibt Siziliens Natur und Geschichte, das Brauchtum und die
Menschen und deren aktuellen sozialen Probleme.
Danach führt der große Routenteil - beginnend in Palermo - einmal um die größte
Insel des Mittelmeers; es werden Abstecher zu Sehenswürdigkeiten im
Landesinneren, auf die Egadischen und auf die Pelagischen Inseln unternommen.
Von Catania bis Agrigento wird Zentralsizilien durchquert, das letzte Kapitel führt
auf die Liparischen Inseln. Die reisepraktischen Informationen über Unterkunft,
Restaurants, Cafés und Nachtleben beruhen auf persönlichen Tests der Autoren,
so dass die Auswahl aus dem jeweils vorhandenen Angebot zwar nicht allumfassend
sein kann, aber umso aussagekräftiger ist.
Schließlich runden Exkurse
zu vielerlei Themen - vom Banditen Salvatore
Giuliano bis zu Ausführungen über den Schwefel - das Informationsangebot ab
und lassen keine Fragen offen. (Reise Know-How Verlag Rump)
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Martin Lehmann: "Sizilianisch - Wort für Wort"
Die Sprechführer der "Kauderwelsch-Reihe" orientieren sich am
typischen Reisealltag und vermitteln auf anregende Weise das nötige Rüstzeug,
um ohne lästige Büffelei möglichst schnell mit dem Sprechen beginnen zu können,
wenn auch vielleicht nicht immer druckreif. Besonders hilfreich ist hierbei die
Wort-für-Wort-Übersetzung, die es ermöglicht, mit einem Blick die Struktur
und "Denkweise" der jeweiligen Sprache zu durchschauen. Sizilien, die
Kornkammer des antiken Roms, wurde Jahrtausende lang von den verschiedensten
Nationen und Völkern hart umkämpft. Nie regierten sich die Sizilianer selbst,
ständig standen sie unter fremdem Einfluss, sei er politisch, kulturell oder
vor allem sprachlich, was natürlich seine Spuren im Sizilianischen hinterlassen
hat. Das gemeine Volk sprach immer Sizilianisch, es gab und gibt eine reiche
Literaturproduktion, und bis Mitte des 16. Jahrhunderts war Sizilianisch auch
Kanzleisprache. Bis etwa 1820 gab es Bestrebungen, den Dialekt auszubauen und
zur offiziellen Sprache Siziliens zu erheben. Spätestens aber mit der Einigung
Italiens durch
Garibaldi
1860/61 hatte das Sizilianische keine Chance mehr und wurde vom Italienischen überdacht.
Noch heute wird es stark gebraucht, auch wenn das Italienische durch die Medien
einen immer größeren Stellenwert im Leben des Sizilianers einnimmt. Doch ist
der Sizilianer ein stolzer Mensch, und zu diesem Stolz gehört auch der Gebrauch
des Sizilianischen. So hört man nicht nur in kleineren, abgelegenen Dörfern
Dialekt, sondern auch in den großen Städten. (Reise Know-How Verlag Rump)
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