Peter Schleuning: "Fanny Hensel geb. Mendelssohn"
Musikerin der Romantik
Lebendiges
Porträt einer bemerkenswerten Frau und Künstlerin
Nun liegt er also vor, Band 6 der von Annette Kreutziger-Herr und
Melanie Unseld im Böhlau-Verlag herausgegebenen Reihe
"Europäische Komponistinnen". Nach
Hildegard von Bingen,
Wilhelmine von Bayreuth,
Clara Schumann,
Maria Theresia Paradis und
Myriam Marbe ist nun die Reihe an Fanny Hensel, geb. Mendelssohn,
Weggefährtin von Clara Schumann und Schwester des bekannten
und gefeierten Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, in dessen
Schatten sie Zeit ihres Lebens stand.
Um es gleich vorab zu sagen, Zielgruppe dieses sechsten Bandes der
Edition können nur Leser sein, die sich zumindest mit der
Propädeutik der Musiktheorie vertraut gemacht haben, der hier
von Peter Schleuning dargebotene Lesestoff ist sicher nichts
für den musikalischen Laien. Der Autor, Professor am Institut
für Musik der Universität Oldenburg, schreibt mir
denn auch ein wenig zu akademisch, professoral, zu hochgestochen ...
wie immer man es nennen mag, sein Stil scheint mir von daher manchmal
etwas überladen. Nicht eben mit lockerer Hand hingeworfen, in
einem quasi populärwissenschaftlichen Stil also, hat
Schleuning sein Porträt der Fanny Hensel skizziert, nein, er
wählte den Weg einer detaillierten musikwissenschaftlichen
Studie über die frühromantische Epoche, wobei er
natürlich auch anderen Kunstformen Beachtung schenkt.
Besonders die sehr ins Detail gehenden Werkanalysen im zweiten Teil des
Bandes müssen einem Leser, der keinerlei musikalische
Ausbildung erfahren hat, als ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen.
Aber Menschen ohne musikalische Vorbildung werden dieses Buch ja
ohnehin wohl kaum erwerben wollen. Für diejenigen allerdings,
die in der Musiktheorie einigermaßen bewandert sind, ist dies
in der Tat ein lesenswertes Buch. Peter Schleuning hat es verstanden,
ein lebendiges Porträt der Komponistin und Künstlerin
Fanny Hensel zu entwerfen, auch wenn dieses Porträt zuweilen
einen etwas fragmentarischen Charakter hat. Der Autor gewährt
uns darüber hinaus interessante Einblicke nicht nur in das
musikalische Vermächtnis Fanny Hensels, sondern auch in die
Welt und die Lebensumstände der Familie Mendelssohn, einer
Familie, die wie kaum eine andere die
bürgerlich-intellektuellen und künstlerischen
Anschauungen der gehobenen Gesellschaft im beginnenden 19. Jahrhunderts
repräsentierte. Die Liste der illustren Gäste, die
sich bei den Mendelssohns die Klinke in die Hand gaben, ist denn auch
wirklich beachtlich.
In diesem befruchtenden Umfeld also wuchs Fanny Hensel auf; ein Umfeld,
das aber auch von Ambivalenz geprägt war, denn einerseits war
in jüdischen Familien Leben und Denken der älteren
Generation (namentlich des Vaters) bestimmend, wenn nicht gar
verpflichtend für die nachfolgenden Generationen. Aus diesem
Schatten des Vaters, der später vom Schatten ihres Bruders
Felix abgelöst wurde, herauszutreten, war also keineswegs eine
leichte Aufgabe für Fanny Hensel. Andererseits
ermöglichte ihr das Eingebundensein in diese einflussreiche
und kulturell hochstehende Familie überhaupt erst, die
Grundlagen für ihre musikalische Laufbahn zu schaffen. Dass
sie es dabei ungleich schwerer hatte als beispielsweise ihr Bruder
Felix, liegt auf der Hand. Der aus dem damaligen Verständnis
her gesehene doppelte Makel ihrer Weiblichkeit und ihrer
jüdischen Abstammung war ein Hemmschuh, der ihr ein Abheben in
die höheren Regionen künstlerischer Weihen von Anfang
an erschwerte. Und man darf nicht vergessen, dass diese Vorurteile, die
sowohl gegen Juden als auch gegen das weibliche Geschlecht bestanden,
sich nicht bloß auf die niederen, ungebildeten
Stände beschränkten, sondern auch von der geistigen
Elite mitgetragen wurden. Trotz all dieser Widrigkeiten ist Fanny
Hensel zielstrebig ihren Weg gegangen, wenn auch ihr Werk erst in
neuerer Zeit eine angemessene Würdigung erfahren hat. Und
Fanny Hensel hatte offenbar nicht nur als Komponistin und
Klaviervirtuosin etwas auszusagen, Peter Schleuning stellt sie uns in
seinem Porträt als eine facettenreiche Persönlichkeit
vor, die es verstanden hat, ihre Stimmungen und Gedanken nicht nur
durch die Mittel der Tonkunst wiederzugeben, auch ihre Sprache, der wir
in ihren Briefen und Tagebuchaufzeichnungen begegnen, ist voller Poesie
und stilistischer Vollendung. Dazu kommt ein sprühender, durch
Intelligenz und Menschlichkeit geadelter Humor, der sie jedem Leser
sogleich sympathisch macht. Peter Schleuning beklagt in diesem
Zusammenhang an einer Stelle: "Schade, dass Fanny Hensel niemals in der
poetischen Art ihrer Nachtschilderung über Musik geschrieben
hat."
Drei Phasen der menschlichen und künstlerischen Entwicklung
kann der Verfasser in Fanny Hensels Leben ausmachen, die zwanziger
Jahre als Zeit des Aufschwungs und Aufbruchs, die dreißiger
Jahre als Phase von musikalischer Krise und Mutlosigkeit und
schließlich die beginnenden vierziger Jahre, die einen
schwankenden, uneinheitlichen Verlauf nahmen. Ja, und als sie gerade im
Begriff stand, sich aus dem Schatten ihres Bruders zu lösen,
da holte sie der Schatten des Todes ein.
Bei seinen fundierten und detaillierten Werkanalysen greift Peter
Schleuning exemplarische, verschiedenen Gattungskategorien
zugehörige Werke heraus, um sie seinen Lesern nahe zu bringen.
Das romantische Charakterstück, die Sonatenhauptsatzform,
Chorwerke, aber vor allem das Lied mit Klavierbegleitung sowie das
meist kurze zweihändige Klavierstück, für
den ein eigener Gattungsbegriff nicht existiert, sind Formen, mit denen
sich Fanny Hensel kompositorisch auseinandergesetzt hat. Fanny Hensels
Kantate "Choleramusik" bezeichnet Schleuning gar als das erste
künstlerische Symbol für die Risiken der
Globalisierung und weist ihr damit eine bis heute aktuelle Bedeutung
zu. Der Verfasser zieht dabei Parallelen zwischen dem Ausbruch der
Cholera im Europa des Jahres 1831 und heutigen Epidemien wie AIDS,
Vogelgrippe oder Rinderwahnsinn.
Am Anschluss an die Werkbetrachtungen folgen noch einige Notenbeispiele
zu den hier besprochenen Werken, die Bibliografie sowie ein Personen-,
ein Sach- und schließlich noch ein Werkregister Fanny Hensel.
Was ich dagegen vermisst habe, ist eine Diskografie, eine
Übersicht der zur Zeit auf Tonträgern
erhältlichen Werke von Fanny Hensel. Auch ein Verzeichnis der
momentan im Handel erhältlichen Notenausgaben wäre
vielleicht wünschenswert gewesen für diejenigen
Leser, die Fanny Hensels Werke durch eigenes Studium auf dem
Klavier
kennenlernen möchten, immer noch der fruchtbarste Weg, sich
einem Werk zu nähern, um seinen Gehalt und seine Stimmung
besser verstehen zu lernen.
(Werner Fletcher; 08/2007)
Peter
Schleuning: "Fanny Hensel geb.
Mendelssohn. Musikerin der Romantik"
Böhlau Verlag Köln, 2007. 350 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen