Peter Henisch: "Eine sehr kleine Frau"


In seinem stark autobiografisch geprägten Roman erzählt der am 27. August 1943 in Wien geborene Schriftsteller Peter Henisch von Paul Spielmann, einem Literaten jüdischer Abstammung, der nach langem Aufenthalt im Ausland und einer ähnlich langen Abstinenz vom Schreiben nach Wien zurückkehrt.
Noch ist ihm seine neue Wohnung fremd, ungewohnte Geräusche stören nachts seinen Schlaf. Er ist dabei sich zu orientieren; weiß weder genau, warum er eigentlich zurückgekommen ist, noch, was er in seiner alten Heimat mit seinem Leben anfangen möchte, da steht er eines Nachts, kurz vor Mitternacht, nach einer kleinen Zechtour durch Lokale, die er von früher kennt, vor dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts und erblickt ein altes Piano.

Schlagartig kehrt die Erinnerung an seine Großmutter wieder, "eine sehr kleine Frau". Sie besaß ein solches Piano, unter dem der kleine Paul saß, wenn sie darauf spielte, und als er am nächsten Tag das Geschäft besucht und sich das Instrument genauer betrachtet, kann er nicht mit Sicherheit ausschließen, dass er genau das Piano seiner geliebten Großmutter vor sich hat. Nachdem Paul Spielmann dieses Klavier gesehen hat, überfluten ihn seine Erinnerungen regelrecht.
"Der Enkel war lange im Ausland, aber jetzt ist er wieder da. In der Stadt, in der geboren und aufgewachsen ist. In diesem Winkel, aus dem er die Welt zuerst erblickt hat. Da ist es kein Wunder, dass ihm die Großmutter einfällt, die für sein geistiges und seelisches Erwachen wahrscheinlich entscheidende Person."
Paul Spielmann beschließt, seine Erinnerungen fließen zu lassen und fängt an zu schreiben:
"Sie war eine sehr kleine Frau." Mit diesen Worten soll sein Buch beginnen.

Und dann erzählt Paul Spielmann alias Peter Henisch eine berührende Geschichte seiner Familie, vom jüdischen Urgroßvater und Kohlehändler, der aus Schlesien nach Wien kommt, von den beiden Männern seiner Großmutter, von denen der erste sich nach der Geburt des Kindes aus dem Staub macht, und der zweite, ein Herr Prinz, mit den Nazis sympathisierend, die jüdische Herkunft seiner Frau schlichtweg ignoriert.

Paul Spielmann erinnert sich, indem er die Orte von früher aufsucht, an eine "sehr kleine Frau", die ihm als Kind nicht nur die Musik nahebrachte, sondern durch Vorlesen und Erzählen das in ihm wachrief, was später sein Beruf werden sollte: das Erzählen. Einmal im Jahr fährt die Großmutter mit Paul in die Ferien. Dort wird besonders viel gesprochen, erzählt und Musik gehört. Sie halten an dieser Tradition fest, bis Paul schon fast erwachsen ist.

Während Paul erzählt, spannt er vor dem Leser ein Panorama des Wiens der Nachkriegszeit, mit Plätzen und Gebäuden, die längst nicht mehr so aussehen wie damals. In einem Buchantiquariat versorgt sich Spielmann fast täglich mit alten Büchern; solchen Büchern, die er bei seiner Großmutter kennengelernt und aus denen sie ihm oft und ausführlich erzählt hat. Vicki Baums "Menschen im Hotel" ist eines davon, und indem er in diesen Büchern liest, entfalten sich vor seinem inneren Auge dieselbe Spannung und Atmosphäre wie damals, als ihm seine Großmutter von Büchern und den darin beschriebenen Menschen erzählte.

Der eher nüchterne Bericht über seine ersten Tage nach der Rückkehr nach Wien wird von Spielmann (Henisch) durch immer längere Rückblicke auf die Lebensstationen dieser "sehr kleinen Frau" unterbrochen, die in hohem Alter, ihren Tod schon spürend, ihr Klavier verkauft und sich eine Flugkarte nach Jerusalem besorgt. Doch sie wird die Reise niemals antreten, weil sie auf einer Eisfläche hinfällt und kurz darauf stirbt.

Als Spielmann von seinem Freund in den USA die lange erwartete Nachricht erhält, dass dieser endlich sein Haus verkauft habe, geht er schnurstracks zu dem Antiquar und kauft das Piano.
"Ja, also dann stand das Klavier in der Mitte des Zimmers. Und der Mann, der es bestellt hatte, atmete zuerst einmal seinen Duft ein. Dann öffnete er den Tastaturdeckel und schlug ein paar Töne an. Das Instrument klang nach wie vor wunderschön, der Transport hatte dem Klang nicht geschadet. Der Mann war darüber erfreut, ich glaube, er lächelte. Dann aber holte er das kleine Portabelgerät, das er am Vormittag gekauft hatte, stellte es oben auf das Klavier und startete eine CD mit Beethoven-Sonaten. Und dann setzte er sich unter den Flügel und schloss die Augen."

Peter Henisch hat sich in diesem literarischen Kleinod 30 Jahre nach seinem Vaterbuch noch einmal auf eine beeindruckende Weise mit seiner jüdischen Familiengeschichte auseinandergesetzt. Für mich ist es eines der besten Bücher dieses Herbstes und nicht umsonst für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen.

(Winfried Stanzick; 09/2007)


Peter Henisch: "Eine sehr kleine Frau"
Gebundene Ausgabe:
Deuticke, 2007. 287 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.

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