A. F. Th. van der Heijden: "Engelsdreck"
Notizen aus dem Alltag
Ein Tagebuch der besonderen Art
"Mir schwebte etwas anderes, etwas viel Umfassenderes vor als ein
Tagebuch der Introspektion. Tiraden auf mich selbst oder andere (auch
bloßes Geschimpfe, falls mir zufällig gerade danach
ist). Einfälle für künftige Romane,
für eine persönliche Philosophie. Träume,
Nacht- wie Tagträume. Erotische und obszöne Visionen,
auch die happigsten, wenn es sich so ergibt. Polemiken,
Geständnisse. Geheimnisse."
Dieser auf der Umschlagseite abgedruckte Auszug aus "Engelsdreck"
charakterisiert treffend, was Adri van der Heijden hier im
wörtlichen Sinne des Wortes zum Besten gibt. Für mich
bedeutete die Lektüre von "Engelsdreck" pure,
ungetrübte Lesewonne, abgesehen vielleicht vom Jahr 1988, dem
Geburtsjahr von van der Heijdens Sohn. Da werden die Aufzeichnungen
etwas langatmig. Den Geburtsvorgang schildert van der Heijden
außerordentlich plastisch und eindrucksvoll, danach ergeht er
sich in Banalitäten, berichtet zum x-ten Male, wie er die
Katze füttert, wie Tonio (der Sohn) gestillt wird
und hält sogar schriftlich fest, dass er sich
frühmorgens ankleidet. Und für diese Notizen aus dem
Jahre 1988 hat der Autor immerhin circa 100 Seiten veranschlagt.
Jedoch wird der Leser für diese Weitschweifigkeiten reichlich
entschädigt durch die substanzvolle Dichte der restlichen etwa
450 Seiten. Van der Heijden kredenzt uns mit seinem "Engelsdreck" ein
kunterbuntes Ragout von Gedanken, Träumen, Tagebuchnotizen
etc., manchmal zwar etwas unappetitlich, doch stets goutierbar, auch
wenn die Schärfe der Würze dem einen oder anderen
Leser hin und wieder einmal unangenehm aufstoßen mag. "Er
schont weder sich noch seine Zeitgenossen, noch die Leser"
heißt es sehr richtig im Klappentext. Mit rapierhafter
Schärfe kratzt seine Feder am Lack etablierter Institutionen
und Personen des niederländischen Literaturbetriebes. Gewiss
kann man vieles nur schwer einordnen bzw. verstehen oder bewerten, es
sei denn, man kennt sich einigermaßen gut aus in der
zeitgenössischen niederländischen Literatur und in
der holländischen Medienlandschaft, aber welcher
deutschsprachige Leser kann das schon von sich behaupten?
Doch allein schon die Art, wie van der Heijden schreibt, verdient die
ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers. In vornehmer
Zurückhaltung übt er sich dabei nicht gerade, driftet
auch schon mal ins Vulgäre ab. Aber stets beeindruckte mich
die emotionale Ehrlichkeit, mit der er sein Empfindungs- und
Gedankengut den Lesern präsentiert. Dies ist jedenfalls mein
persönlicher Eindruck gewesen. Neben häufiger, zum
Teil auch polemisierender Kritik, mit der er seine Zeitgenossen
beglückt, präsentiert van der Heijden seinen Lesern
aber auch Tiefschürfendes, literarische Perlen von
aphoristischer Bündigkeit ähnlich wie in Schlegels
"Fragmenten". Beispiel: "Es gibt Schriftsteller, die nach Vielfalt
streben und dabei (unbewusst) eine straffe Einheit hervorbringen;
andere gehen von dieser Einheit aus und versuchen, in ihr
möglichst vielfältig zu sein. Im ersten Fall droht
die würgende Einheit die Vielfalt zu ersticken; im zweiten
droht die Vielfalt die Einheit zu zersplittern."
Für mich die interessantesten Passagen aus "Engelsdreck": wenn
van der Heijden uns Einblicke in seine literarische Werkstatt
gewährt, die Entstehung seiner Bücher dokumentiert,
im Besonderen die Arbeit an seinem großen Romanzyklus "Die
zahnlose Zeit". Dann sind wir zu Gast in seiner Wortschmiede, erfahren,
wie er seine Gedanken, seine Gefühle in Worte zu schmieden,
etwas Lebendiges in eine tote Worthülse zu packen versucht.
Das Dilemma eines jeden Schriftstellers, etwas Grenzenloses, Flexibles
wie Ahnungen und Gedanken einzuzementieren in ein starres
Buchstabenmausoleum. Nebenbei bricht Adri van der Heijden noch eine
Lanze für die Autoren rein fiktiver Literatur. "Es wird immer
einen harten Kern von Autoren geben, die den durch nichts zu
ersetzenden Wert der Fiktion erkennen und sich der Fantasie als
wichtigstem Instrument bedienen". Im Gegensatz dazu bespöttelt
er die Flut autobiografischer Berichte oder Romane, die zur Zeit den
Buchmarkt überschwemmt.
"Engelsdreck" ist wohltuend frei von ideologischen bzw.
weltanschaulichen Belehrungs- oder Bekehrungsversuchen, so wie sich van
der Heijden überhaupt fast jeglicher politischer Aussage
enthält.
Des Autors Schwäche ist vielleicht eine gewisse
Überempfindlichkeit gegenüber seinen Kritikern, die
ihm mit ihren Beckmessern etwas ins Kerbholz ritzen wollen,
für das er sich nicht verantwortlich glaubt. Doch dies ist ihm
sicher bewusst, und schonungslos deckt er denn auch dem Leser seine
eigenen Schwächen auf. Er legt also gleiche
Maßstäbe an sich selbst wie an alle anderen und
betrachtet sich keineswegs im Spiegel eigenen Wohlgefallens. Wie
gesagt, er schont weder sich noch die Leser. Trotzdem oder vielleicht
auch gerade deswegen: ein in jeder Hinsicht lesenswertes Buch.
(Werner Fletcher; 05/2006)
A. F.
Th. van der Heijden: "Engelsdreck"
(Originaltitel "Engelenplaque. Notities an alledag")
Suhrkamp, 2006. 553 Seiten.
Aus
dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
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Adrianus
Franciscus Theodorus van der Heijden wurde am 15. Oktober 1951 in
Geldrop (Niederlande) als Sohn eines bei der Firma Philips
beschäftigten Lackierers geboren. Er besuchte das
Sint-Joris-Gymnasium in Eindhoven, wo er 1969 sein Abitur ablegte.
Nach einjährigem Herumjobben begann er ein Psychologiestudium
an der Katholischen Universität Nijmegen, wechselte allerdings
schnell zur Philosophie. Im Anschluss an die Zwischenprüfung
zog van der Heijden nach Amsterdam, um dort Ästhetik zu
studieren, beendete sein Studium allerdings nicht; er hatte sich
entschlossen, Schriftsteller zu werden.
Im Juni 1978 erschien in der Literaturzeitschrift "De Revisor" die
Erzählung "Bruno Tirlantino oder die Hochzeit der Prinzessin
Ann". Hier verwendete van der Heijden noch das Pseudonym Patrizio
Canaponi. Für seinen Erzählungsband "Eine Gondel in
der Herrengracht" ("Een gondel in de Herengracht") erhielt er im
gleichen Jahr den niederländischen Literaturpreis für
den besten Erstling; 1979 erschien, ebenfalls unter dem Pseudonym
Canaponi, der Roman "Die Drehtür" ("De Draaideur").
1997 wurde ihm der alljährlich verliehene
Generale-Bank-Literatur-Preis für den Band "Unterm Pflaster
der Sumpf" zuerkannt. Dieses Buch ist der dritte Band des Zyklus "Die
zahnlose Zeit".
Seit Mai 2003 liegt der Zyklus "Die zahnlose Zeit", in der viel
gelobten Übersetzung von Helga von Beuningen, komplett vor.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Die Drehtür"
"Die Drehtür" ist ein Roman über die Geburt. Mehr
noch ist es ein Roman über
den Tod - angefangen bei dem einem Gedicht von Cees Nooteboom entlehnten
Motto ("Langsam schwebe ich auf die Spiegel zu / in denen ich schmelzen
werde") bis hin zum Schlusssatz ("Ich atme ein letztes Mal ein"),
Mit dem Titel "Die Drehtür" bezieht sich der Autor darauf,
dass eine Drehtür jeweils einen kleinen, ständig
wechselnden Sektor Luft mit der großen, ungeteilten Menge
außerhalb und innerhalb des Gebäudes in
Berührung bringt. Damit ist auch das Kompositionsprinzip des
Romans bezeichnet: Im vorliegenden Fall handelt es sich um die
Drehtür des Amsterdamer Café Americain, in dem die
Hauptfigur des Romans einer Person begegnet, die ihm ähnlich
sieht wie ein älterer Zwillingsbruder. Und durch diese
Drehtür wird ein spannendes Spiel zwischen Traum, Erinnerung
und Wirklichkeit in Gang gesetzt.
Bereits in diesem Roman sind alle Merkmale des
verrätselnd-einfachen Erzählens van der Heijdens
versammelt: Auflösung des chronologischen Erzählens
und Erfindung eines neuen Erzählprinzips. Dadurch gelingt es
dem Autor in fast spielerischer Weise, den Leser in sein
Erzähllabyrinth zu locken, ihn mit immer neuen Wendungen zu
überraschen und zu faszinieren. (edition suhrkamp)
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"Die
Movo-Tapes"
"Ich kann mich nicht mal richtig vorstellen, denn ich habe meinen Namen
verhökert." Tatsächlich hat der göttliche
Apollo bereits Anfang der
1960er, in Geldnöten befindlich, seinen guten Namen an die
NASA verkauft - für
einen Pappenstiel, so dass der ehemalige Hausherr des Delphi-Orakels
künftig
vom Horoskopschreiben leben muss. Bei seinen Studien der menschlichen
Natur
stößt er auf den jungen
Niederländer Tibbolt Satink, Jahrgang 1973 und
seit seiner Geburt von einem Fußleiden geplagt. Deutet
letzteres auf Tibbolt
als einen modernen Ödipus? Einen, dem seine leiblichen Eltern
fremd sind,
einen, der von dem Liebespärchen, das sich 1973 bei
Dreharbeiten zu einem
Pornofilm kennenlernt, nichts weiß?
Tibbolt hat große Pläne; so will er die
wüsteste Hooliganschlacht Amsterdams
anzetteln, vor allem aber die lästigen Begleiterscheinungen
des menschlichen
Lebens und Sterbens einem Alter ego mit Namen Movo
(niederländisch kurz für
"schlimme Füße") aufhalsen. An den Tapes, auf denen
Tibbolt von
seinem Vorhaben berichtet, ist nicht nur Apollo sehr interessiert.
(Suhrkamp)
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"Tonio.
Ein Requiem"
Worüber man nicht reden kann, darüber muss man einen
Roman schreiben, so lautet die Lebens- und Überlebensmaxime A.
F. Th. van der Heijdens. Es ist die einzige Art und Weise, wie er dem
Schicksal seines 22-jährigen Sohnes begegnen kann. Tonio van
der Heijden starb am 23. Mai des Jahres 2010 in Amsterdam: Ein Auto
überfuhr ihn am frühen Morgen auf dem Weg nach Hause.
In einem zweiteiligen Roman findet und erfindet der
Ich-Erzähler Adri die ersten sechs Lebensjahre seines Sohnes,
und zwar von der Geburt im Juni 1988 bis zum Schuleintritt. Dieser
Romanteil gehorcht dem Motto: den Sohn festhalten, ihn
schützen vor allen Gefahren. Der zweite Teil konstruiert, in
Form eines Kriminalromans, die für sich betrachtet
völlig unlogischen Todesumstände von Tonio.
Entstanden ist auf diese Weise ein berührender und bewegender
Roman über das Unglück schlechthin, über die
Unbegreifbarkeit des Unvorstellbaren - zugleich ein Buch über
die unabweisbaren Fragen nach der eigenen Schuld, ein Buch der Trauer.
Wenn es angesichts der Unfassbarkeit des Todes eine Form der Trauer
gibt, die den Lebenden Zukunft eröffnet und Zuversicht
ermöglicht, so muss sie die Gestalt dieses Herz und Kopf in
Bann schlagendes Requiems besitzen. Dieses Buch dementiert die
weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.
(Suhrkamp)
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"Unterm
Pflaster der Sumpf"
"Der Gerichtshof der Barmherzigkeit" und "Unterm Pflaster der Sumpf"
bilden den End- und Kulminationspunkt des mehrbändigen Zyklus
"Die zahnlose Zeit".
In "Der Gerichtshof der Barmherzigkeit" und "Unterm Pflaster der Sumpf"
begegnen uns die Hauptfiguren der "Zahnlosen Zeit" erneut: an erster
Stelle Albert Egberts, der in Übereinstimmung mit seiner
Haltung, man müsse ein Leben in die Breite führen,
seinen zehntausendsten Lebenstag feiert und erst später
feststellt, dass die Karbolmaus Sux Cox vergessen hat, die Schaltjahre
mitzuzählen. Da ist Zwanet Vrauwdeunt, die Freundin von Albert
Egberts, die bei einer Zeitarbeitsagentur beschäftigt ist und
ihren Freund Albert mit merkwürdigsten Aufträgen nach
Italien schickt. Da ist Felix Boezaardt, der Künstler, der
sein totales Kunstwerk schaffen will mit dem Resultat, dass Thjum
Schwantje zu Tode kommt. Und natürlich sucht der Anwalt Ernst
Quispel die Liebe aller Frauen. (Suhrkamp)
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"Das Biest" zur Rezension ...