Ha Jin: "Im Teich"


Der zweiunddreißigjährige Shao Bin lebt mit seiner Frau Meilan und der gemeinsamen zweijährigen Tochter Shanshan in beengten Verhältnissen in einer Kommune namens Endstadt. Er verdient sein Geld als Monteur in der Düngemittel-Fabrik "Ernteglück". Als seine einzig wahre Berufung sieht Bin das Anfertigen von Kalligrafien, Zeichnungen und Stempeln; Fähigkeiten, die er sich autodidaktisch erworben und zu beachtlicher Perfektion entwickelt hat, sowie das Studium schöngeistiger Literatur, was ihn in den Augen der Kollegen zum belesenen Gelehrten macht.
Allabendlich, wenn Frau und Kind in der Ein-Zimmer-Wohnung eingeschlafen sind, malt er mit geübter Hand bis tief in die Nacht hinein Schriftzeichen auf Papier, liest oder zeichnet. Insgesamt ein eher unauffällig lebender junger Mann also, bis er bei der Wohnungsvergabe zum wiederholten Male übergangen wird, was ihn in seiner Meinung bestärkt, die Führungskader fällten ihre Entscheidungen nicht aufgrund objektiv nachvollziehbarer Überlegungen. Bin lehnt es ab, Vorgesetzte nach Art eines Günstlings durch gefällige Schmeichelei oder Bestechungsgeschenke gewogen zu stimmen.

Und so prangert er die subjektiv empfundenen Ungerechtigkeiten in scharfen Karikaturen und Plakaten an, die von dermaßen bestechender Qualität sind, dass sie in diversen Zeitungen abgedruckt werden. Da die betroffenen Kader, Sekretär Liu Shu und Direktor Ma Gong, deutlich zu erkennen sind, zieht sich Bin verständlicherweise deren Argwohn und später Hass zu und macht sie zu seinen erbitterten Gegnern, zumal es allen Streitparteien ganz offenkundig am Willen mangelt, die Ereignisse zielführend auszudiskutieren.
Bin verfolgt konsequent sein Vorhaben, die (vermeintlichen) Mängel im System durch Protestbriefe an übergeordnete Instanzen und Zeitungen publik zu machen, rechnet in seiner eigenartigen Naivität jedoch nicht damit, dass die Führungskader einander den Rücken stärken und gerät auf diese Weise in den zweifelhaften Ruf, ein Menschenverächter zu sein.
Trotz allem bleiben seine künstlerischen Talente nicht unbemerkt, und selbst seine erbittertsten Widersacher zollen ihm für seine wundervolle Pinselschrift Anerkennung und halten ihn für einen fähigen Propagandamacher.

Die Eigendynamik des (zumindest mitverursachten) destruktiven Prozesses bekommt der am untersten Ende der hierarchischen Struktur stehende Bin mehrmals am eigenen Leib zu spüren: Mobbing! Wie man weiß, ist es nicht eben einfach, einem solchen Kreislauf der gegenseitigen Bezichtigungen sowie der Versuchung, dem jeweiligen Gegner die alles entscheidende Niederlage zuzufügen, zu entkommen bzw. zu widerstehen. Wie man weiters weiß, ist es für Außenstehende beinahe unmöglich, den Blickwinkel eines Mobbing-Opfers nachzuvollziehen, und auch in diesem Fall steigert sich der Betroffene übertrieben in seine Rachegelüste hinein.
Wen wundert es, dass er vorerst der Hauptleidtragende ist, zumal er selbst das Parteikomitee gegen sich aufbringt und seine hinterlistigen Kader vor Zeugen wüst beschimpft ("Ich treib's mit euren Ahnen! Ich fick sie paarweise!")?
Dies alles wäre freilich wenig mehr als die Darstellung des Scheiterns eines intellektuellen Querulanten mit zufälligerweise glücklichem Ausgang in bisweilen enervierend selbstmitleidiger Form, wäre da nicht Ha Jins humoriger Erzählton, der über so manche inhaltliche Durststrecke hinwegtröstet.

Damit die Geschichte ein gutes Ende nehmen kann, ist die Hilfe einiger Journalisten vonnöten, die den "Skandalfall" der Unterdrückung eines aufrechten, tapferen Genossen zu einem überregionalen Ereignis aufbauschen und dadurch ihrerseits in Bedrängnis geraten. Nun trägt Bin nicht länger nur die Verantwortung für sein eigenes Wohl und Wehe, sondern auch für das Weiterbestehen einer ganzen Zeitung!
Wie er seinen Hals mittels Selbstinszenierung der besonderen Art aus der Schlinge zu ziehen imstande ist und der relativ vernünftige Sekretär Yang Chen sich letztendlich gegen Strafe und für Belohnung entscheidet, ist recht unterhaltsam: "Wir können ihn nicht bestrafen, ohne uns selbst zu schaden. (...) Ich werde großzügig mit diesem Shao Bin verfahren. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn zu besänftigen. Außerdem möchte ich ihn auf unsere Seite ziehen; er muss in unserem Teich bleiben. (...) Wir schwimmen im selben Teich und können nicht ständig nacheinander schnappen."
Bin erhält eine Stelle in der Kommuneverwaltung, im zweiundzwanzigsten Dienstrang, zuständig für die Propagandaarbeit - jedoch, was mag das bedeuten? - abermals keine neue Wohnung ...

(Felix; 12/2001)


Ha Jin: "Im Teich"
(Originaltitel: "In the Pond")
dtv, 2001. 179 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen