Ulla Hahn: "Dichter in der Welt"

Mein Schreiben und Lesen


Ergreifendes Begreifen

Dass der Literaturbetrieb ein Kindergarten (ohne ausreichende Betreuung) ist, erweist sich z.B. wieder einmal an den Vorgängen zwischen Marcel Reich-Ranicki und Ulla Hahn. Bekanntlich hatte MRR anfangs die "talentierte" Jungpoetin nach allen Kräften gefördert. Dann, als sie sich der Prosa zuwandte, wurde MRR eigenartig verstockt - "Infantil, pubertär, höchstens für weibliche Leser von Interesse" polterte er los - so schmählich fühlte er sich verraten, dass er (offiziell) im vorletzten "Literarischen Quartett" (8. Okt. 2001) sein vernichtendes Urteil fällte. Doch was geschieht just im Februar 2006: Ulla Hahn ist neben Hellmuth Karasek und Peter Rühmkorf eingeladen, um feierlich Reich-Ranickis siebenbändigen Lyrik-Kanon in einer "hr"-Matinee der Öffentlichkeit zu präsentieren. Schreibt das Leben nicht doch die schönsten Geschichten?!

Zum 60. Geburtstag Ulla Hahns erschien diese Sammlung mit Essays, Reden und Kritiken mit dem Untertitel "Mein Schreiben und Lesen": "Ein verführerisches Plädoyer für ein Leben mit Dichtung in der Gegenwart. Scharf formuliert, unterhaltsam und informativ" (Klappentext). Es handelt sich dabei um Überlegungen zum Schreiben und Lesen von Gedichten und zur Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. Dies untersucht Hahn am eigenen Schreiben und an etlichen recht unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff, Else Lasker-Schüler, Sylia Plath, Erich Fried, Karl Krolow, Bertolt Brecht, J. W. v. Goethe oder Gottfried Benn. Hahn versucht ihr eigenes Schreiben und das der Anderen zu begreifen und sie sagt: "Auch ein Schriftsteller sollte Dinge, die im argen liegen, beim Namen nennen - wie jeder andere Demokrat" (vgl. Vorwort).

Ästhetik und soziales Engagement gehörten im Gedicht eo ipso zusammen - in der Lyrik werde Erfahrung zu Sprache - dabei möchte Hahn immer wieder sich selbst überraschen und Wiederholungen vermeiden. Das Gedicht gründe auf dem "Hunger nach Sinn", und seine "Melodie" solle an das "Gefühl der Freiheit" im Menschen rühren. Vom Leser wünscht sich Hahn Geduld und Neugier. Dabei sei das Gedicht "wie eine Partitur (...) Lesen ist wie Musik spielen und hören zu einer Zeit." Dementsprechend wichtig sei der Klang eines Gedichts - Metrum, Rhythmus, Reim - wodurch es sich von der gewöhnlichen Sprache unterscheide. Schon Goethe war davon überzeugt, dass Dichtung vorgetragen werden müsse - was nach Brecht genausogut für reimlose Lyrik gilt - er sagte schon, er schreibe und lese mit den Ohren.

Für Ulla Hahn heißt schreiben auch "sich zu entdecken, sich selbst sichtbar zu machen." Ironischerweise kommt sie in einer "Kurzen Skizze der marginalen Existenz der Frau in der europäischen Literaturgeschichte" zu einer Feststellung, die ihre eigene, eingangs skizzierte Situation zu beschreiben scheint: "Die Bereitschaft, Frauen zu fördern, ist noch immer weitgehend mit deren Ausrichtung auf geltende kulturelle Normen und ihre Anpassungswilligkeit an das literatur-politische Konzept ihrer Förderer gekoppelt, deren Förderung so lange funktioniert, wie sich die Frauen dem Anspruch der Männer auf Überlegenheit unterordnen." Da sei dann doch die Frage erlaubt, ob sich literarische Qualität von Texten nicht auch unabhängig vom Geschlecht der Verfasser(innen) diskutieren ließe?!

Was ihren generellen Umgang mit Literatur angeht, formuliert Ulla Hahn die Maxime: generell könne man nur begreifen, was einen ergreift - das ist alte Dilthey/Staiger-Schule - und die Tradition müsse gepflegt werden. Überdies möchte sie nur Bücher besprechen, die ihr gefallen! Und so begegnet sie allen in diesem vorliegenden Band behandelten Autorinnen und Autoren mit Respekt und Hingabe, einfühlsam und kenntnisreich bis ins überraschende Detail. Und wenn wir uns noch daran halten, was Ulla Hahn fordert - nämlich den gegenseitigen Respekt - auch zwischen Autoren und Politikern - dann haben wir einige Botschaften dieses Buches verstanden. Botschaften, denen man eigentlich auch nur als gestresster Polemiker widersprechen könnte.

(KS; 02/2006)


Ulla Hahn: "Dichter in der Welt"
DVA, 2006. 320 Seiten.
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Ulla Hahn wurde am 30. April 1946 in Brachthausen/Sauerland geboren und wuchs im Rheinland auf. Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie, Promotion. Lehraufträge an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend Redakteurin für Literatur beim Rundfunk in Bremen. Für ihre Lyrik wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Unscharfe Bilder"

"Unscharfe Bilder" ist ein Roman über den unerwarteten Zusammenprall der Erlebniswelt des Krieges mit den ganz anderen Erfahrungen der nächsten Generation. Der Roman schildert diese Konfrontation der Bilder, diese Erinnerungskluft, als den späten Weg der Selbstfindung eines einst verstrickten Vaters, aber auch als ein neues Begreifen der Tochter. Vergessen kann man nur, woran man sich zuvor erinnert hat.
Katja ist entsetzt: Sie ist sicher, auf einem Foto der Ausstellung "Verbrechen im Osten" ihren Vater bei der Erschießung von Zivilisten entdeckt zu haben. Sie wusste nur, dass er als Soldat in Russland war. Er war immer ihr Vorbild. Sie bringt ihm den Katalog, der dieses Bild nicht enthält, in sein Seniorenheim. Nun hofft sie, dass ihr Vater, konfrontiert mit den Fotos im Katalog, von sich aus auf sein Verbrechen zu sprechen kommt. Widerwillig beginnt er zu erzählen. Aber in ihm leben ganz andere Bilder. Geschichten vom Leid und Tod deutscher Soldaten, von Freundschaft und Liebe mitten in der Mordwelt, von bewegenden Begegnungen mit Sowjetbürgern. Gegen ihren Willen wird Katja von den Erzählungen des Vaters mitgerissen - und der Leser mit ihr. Aber sie beharrt auf der Wahrheit ihres Bildes. Erst spät deckt Katja dem Vater - und dem Leser - ihre Karten auf. Dann werden die unscharfen Bilder klar, die vermeintlich so scharfen vieldeutig.
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"So offen die Welt"
Ulla Hahns kräftige und klare Gedichte, manchmal voller melancholischer Zärtlichkeit, sind Meldungen am Weg, den wir dahinleben, das Paradies im Rücken und vor uns die Sehnsucht danach. Hahns Aufmerksamkeit gilt dem hier und jetzt sich versuchenden Leben, auch Ehe und Älterwerden gehören dazu. Alter meint Verluste, die nicht beschönigt werden, aber es meint auch Erfahrungen, und der erfahrene Mensch ist schön.
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"Das verborgene Wort"
"Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an."
Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Fantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Im Deutschland der 1950er und frühen sechziger Jahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts. Am Ende wird sie frei sein.
Frei, auf dem Weg in ein Leben als junge, starke Frau. Sie hat Gewalt und Widerstände überwunden, die das Mädchen in den kargen Jahren nach dem Krieg festhalten wollten in der Enge des Dorfes, als gehorsame Tochter der Kirche. Hildegard Palm, kleiner Leute Kind, die wegen ihrer Fantasie als ein bisschen verrückt gilt, auf ihren Widerspruch Dresche und für ihre Einfälle Kopfschütteln erntet, Hildegard fügt sich nicht in die Welt der Anderen, will sich nicht abfinden mit den einfachen Wahrheiten der Eltern, dem Standesdünkel der Lehrerin und der Dumpfheit in der Fabrik. Früh entdeckt sie Töne, Stimmen, große Gedanken, erkennt eine zweite, reichere Wirklichkeit: Sie findet Freiheit im Wort und Kraft in der Literatur.
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"Aufbruch"
Ihr Leben scheint vorgezeichnet: Kinder, Küche, Kirche. Doch Hilla träumt sich weg aus dem Dorf am Rhein. Nichts kann dem Kind kleiner Leute die Sehnsucht nach der Freiheit des Geistes austreiben. Unverhofft bietet sich ihr ein neues Leben: Abitur, Studium, ihre selbst gewählte Zukunft liegt vor ihr. "Aufbruch" ist ein imposantes Epos, das feinnervig vom Erwachsenwerden, Wachwerden, Menschwerden erzählt.
Hilla lacht das freieste Lachen der Welt. Es ist der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Jänner 1963; das Lehrerkollegium des Aufbaugymnasiums hat beschlossen, die Siebzehnjährige noch ins laufende Schuljahr aufzunehmen. Mit diesem Tag beginnt für das wissbegierige Kind "vun nem Prolete" endlich das lang ersehnte neue Leben, in dem die einfachen Wahrheiten der Eltern nicht mehr gelten, in dem das Buckeln in der Papierfabrik von der Freiheit der Worte abgelöst wird. Doch wird Hilla ihre wahre Heimat wirklich in der Sprache finden?
"Aufbruch" gewährt einen anrührenden Blick in die Seele einer mutigen und doch so verletzlichen Heranwachsenden - und zeichnet sprachübermütig und mit großem epischem Temperament ein detailreiches Sittengemälde von den bundesrepublikanischen Mittsechzigern. (DVA)
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"Spiel der Zeit" zur Rezension ...