Peter Härtling: "Hoffmann oder Die vielfältige Liebe"

Eine Romanze


E.T.A. Hoffmanns Bamberger Jahre

"Eine Romanze" nennt Peter Härtling die biografische Episode aus dem bewegten Leben des Dichters, Musikers und Malers E.T.A. Hoffmann, eine Episode aus den Bamberger Jahren, über die er uns in "Hoffmann oder Die vielfältige Liebe" berichtet. Und es handelt sich hier um eine biografische Studie ganz eigenwilliger Art, an der Hoffmann aber vermutlich seine Freude gehabt hätte. Sie ist amüsant und bewegend geschrieben, dank Peter Härtlings dramaturgischem Geschick bewegend auch für jemanden, der mit Hoffmanns überlieferter Lebensgeschichte bestens vertraut ist.
Mit hoffmannesker Schelmenhaftigkeit führt uns der Autor die Personen vor, die in dieser Geschichte von Belang sind, vor allem natürlich den skurrilen Hoffmann selber, und er versteht es meisterhaft, den hier skizzierten Personen Leben einzuhauchen. Voll sinnlicher, musikalischer Eloquenz ist Härtlings Erzählweise, ganz dem Thema, das er hier behandelt, angemessen.

Die Liebe zu einem vierzehnjährigen Mädchen, das die Schwelle, hinter der noch deutlich greifbar die Kindheit liegt, gerade erst überschritten hat. Wie kaum eine andere steht diese Form der Liebe für die romantische Liebe schlechthin, nämlich die unstillbare Sehnsucht, das Verlangen, etwas Flüchtiges wie die Schönheit oder die Jugend festzuhalten. Schönheit, die sich in diesen anmutigen Wesen - den der Kindheit gerade entwachsenen Mädchen - in all ihrer knospenden Fülle offenbart, um nach einem kurzen Aufblühen, gleich einem sich an die Bestimmung seiner Natur verausgabenden Blütenkelch, den süßen Atem der Jugend unwiederbringlich auszuhauchen; um vorher aber noch all die taumelnden Schmetterlinge anzulocken, sich an ihr zu berauschen. Auch Hardenberg (Novalis) hatte ja seine erste große Liebe einer Dreizehnjährigen (Sophie von Kühn) geweiht.

Ist nicht Hoffmann selbst der Schmetterling, der durch seine Tagebücher flattert, und nicht etwa Julia, wie uns Peter Härtling nahelegen will?

"Er sagt: ich liebe, er sagt nicht: ich liebe dich." Diese Worte legt Peter Härtling Hoffmann in den Mund. "Ich liebe" und nicht "ich liebe dich", eine typisch romantische Einstellung. An seine aus Polen stammende Ehefrau Mischa, eine aufopferungsvolle, liebende Gattin, die den vielfältigen Eskapaden ihres ein wenig verrückten Gatten immer wieder mit Verständnis begegnet, richtet Hoffmann dieses Bekenntnis seiner romantischen Seele. Zugegeben, dies, wie auch die Liebe zu einer Kindfrau, ist nur eine Seite der romantischen Liebe, wie man einen weit gefächerten, in tausend Facetten schillernden Begriff wie den des Romantischen ja auch nicht in einen bestimmten, festgelegten Bildrahmen zwängen kann.

Peter Härtlings Buch liefert weiters eine psychologische Studie des romantischen Charakters, dargelegt an der Person E.T.A. Hoffmanns. Die krankhafte Seite des Romantikers, die innere Zerrissenheit, das Widersprüchliche im Romantischen überhaupt, das alles spiegelt sich auch in Hoffmann wider. Seine unberechenbaren Launen, das Exaltierte seiner Persönlichkeit, das Grimassierende, Verzerrte, das allerdings vom Majestätischen seiner Ironie und Selbstironie zumeist beherrscht wird, das bringt uns Peter Härtling überzeugend nahe.
Das wogende Chaos in Hoffmanns Innerem, sein Antrotzen gegen gesellschaftliche Konventionen, das auch Ausdruck in seiner Liebe zu Julia findet. Aber die Erfüllung seiner im damaligen wie auch im heutigen Verständnis skandalösen Liebe hätte seine Sehnsucht vermutlich nicht befriedigen können. Das unerfüllbare Sehnen seines romantischen Charakters hätte sich in eine neue Schimäre gekrallt, und nur das Vergehen im Tod hätte letztendlich die Erfüllung der unaussprechlichen Sehnsucht bringen können, die wie kein anderer Wesenszug den romantischen Charakter beherrscht.

Allein Mischa, in Härtlings Romanze ebenfalls sehr überzeugend und lebensnah charakterisiert, gab "ihrem Hoffmann" immer wieder den nötigen Halt, ihm, der seinen sowieso schon schwächlichen Körper durch exzessiven Alkoholgenuss zusehends ruinierte. Peter Härtling beschreibt wohl diesen unansehnlichen, fragilen, beinahe zwergenhaften Körper Hoffmanns, worüber er sich aber ausschweigt, ist der innere Konflikt, den ihm dieser Körper verursacht haben muss, der ihm wie ein Gefängnis erscheinen musste, in den sein beinahe uferloser Geist eingepfercht war; ein Purgatorium, worin Hoffmanns heißes Blut zeitlebens die Flamme der Liebe schürte.

Diese Periode in Hoffmanns Leben, von der das vorliegende Werk handelt, seine Bamberger Zeit also, war zweifellos die bedeutendste Zeitspanne seines Lebens, zumindest was E.T.A. Hoffmanns künstlerischen, literarischen Werdegang angeht. In Hoffmanns Bamberger Zeit sind die wichtigsten und fruchtbarsten Keime seines literarischen Schaffens gelegt worden; nicht zuletzt dank seiner unerfüllten Liebe zu seiner Gesangsschülerin Julia, die ihm in seinen Fantasien auch als Undine vorschwebte.

Peter Härtling hat es großartig verstanden, diese Beziehung zweier so unterschiedlicher Menschen sowie ihre Stellung in ihrem damaligen sozialen Umfeld in ein wunderbares, bezauberndes Licht zu rücken.

(Werner Fletcher; 02/2006)


Peter Härtling: "Hoffmann oder Die vielfältige Liebe"
dtv, 2006. 256 Seiten.
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Peter Härtling starb am 10. Juli 2017 nach kurzer schwerer Erkrankung in Rüsselsheim.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Verdi. Ein Roman in neun Fantasien"

Peter Härtling, profunder Musikkenner und Autor hochgelobter Künstlerromane von Schubert über Schumann bis zu Hölderlin und Fanny Mendelssohn, nähert sich dem alternden Verdi und lässt seine Fantasie schweifen.
Die Geschichte beginnt auf der Höhe seines Schaffens und gleichzeitig an einem kritischen Punkt. Verdi hat mit "Aida" einen phänomenalen Erfolg gefeiert und versucht nun etwas Neues. Mit dem Streichquartett in e-Moll und dem Requiem überrascht er sich, sein Publikum und Peppina, seine zweite Frau und engste Vertraute. Und er beginnt, sich neben der Musik um Anderes zu kümmern: seinen Landsitz Sant’Agata, in dessen Umgebung er ein Krankenhaus gründet, und die Casa di Riposi dei Musici, ein Altersheim für ehemalige Musiker in Mailand. Es folgen weltberühmte Kompositionen, besonders der "Otello" und der "Falstaff" in der spannungsreichen Zusammenarbeit mit dem Librettisten Arrigo Boito. Härtling erzählt von einem Mann, der immer auf der Suche ist - nach sich, der Liebe, der Erfüllung, dem künstlerischen Ausdruck. Einem Mann mit Erfahrung, der doch immer wieder von Neuem anfängt und am Vertrauten hängt, vor allem an seiner Peppina. Ein beglückender Roman, leicht erzählt, mit musikalischem Gespür für Dissonanzen, Zwischentöne und das große Finale. (Kiepenheuer & Witsch)
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"Das ausgestellte Kind. Mit Familie Mozart unterwegs"
Peter Härtling begibt sich in dieser Novelle auf die Spuren des jungen Mozart. Mit großem Einfühlungsvermögen und zarter Sprache zeigt er einen doppelt Getriebenen: von den ehrgeizigen Plänen des Vaters und von der eigenen schöpferischen Kraft.
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Wie es sich anfühlt, anders und besonders zu sein, das fasst Härtling in ergreifende Worte und Bilder. Und ganz beiläufig führt er zwei Geschichten zusammen: die des getriebenen Wolfgang Mozart, der in Olmütz erkrankt, und die des Flüchtlingskindes Peter, der in Olmütz eine vorläufige Heimat findet.
Ein literarisches Kleinod, das auf wunderbare Weise die Gefühlswelt eines einsamen Menschen anschaulich macht. (dtv)
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"Hölderlin"
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"Die Lebenslinie. Eine Erfahrung"
Der Schmerz traf ihn im Schlaf, wand sich den linken Arm hinauf, schnürte ihn ein und wurde erst durch den herbeigerufenen Notarzt gelindert. Danach: eine Reise durch Kliniken, Reha-Zentren und Orte der Vergangenheit - zurück ins Leben.
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Peter Härtling führt den Leser mitten hinein in den düsteren Moment, als sich ein Gitter über seine Brust legte und ihm den Atem raubte, und nimmt ihn mit in die Klinik, wo über sein weiteres Schicksal entschieden wird. Mit staunenden Augen und einem feinen Sinn für Humor beschreibt er die Auseinandersetzungen der behandelnden Ärzte, ihre rigiden Verhaltensvorschriften und seine sanfte Rebellion dagegen, das Wissen um die Anfälligkeit des Körpers und den unbezwingbaren Wunsch nach einer Fortführung des gewohnten Lebens. Die Sorge und Zuwendung der Angehörigen wird ebenso erfahrbar wie sein Bedürfnis, diese Erfahrung zu teilen. Die Hoffnung, sein Kindheitstrauma - den frühen Verlust des Vaters - zu überwinden, führt Peter Härtling schließlich zurück nach Zwettl, auf die Suche nach dem Grab seines Vaters.
Ein ergreifendes, zutiefst persönliches und dadurch exemplarisches Buch über eine Grenzerfahrung und eine Möglichkeit, mit ihr umzugehen. (dtv)
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"Schubert"
Eine der faszinierendsten Darstellungen von Franz Schuberts Lebensstationen und seiner Musik, deren Heiterkeit und Melancholie auf einem tragischen Untergrund ruht, liefert Peter Härtlings Roman "Schubert". Sinnlich, anschaulich, in einer selbst zur Musik gewordenen Sprache zeichnet Härtling das Porträt des Genies und unglücklich Liebenden, dessen kurzes Leben sich in einem unvergleichlichen Werk kristallisiert. (dtv)
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"Schumanns Schatten"
An zwei verschiedenen Erzählsträngen entlang verläuft diese Erzählung des Lebens und Sterbens des großen Komponisten Robert Schumann. Härtling beschreibt zum Einen aus der Sicht des Pflegers, der Schumann die letzten zwei Jahre seines Lebens betreut hat, zum Anderen fügt er die wichtigsten Ereignisse aus dem zerrissenen, bewegten Leben des Komponisten, aus seiner Ehe mit Clara Schumann und seiner Freundschaft zu Brahms und Mendelssohn, hinzu. Dieses Buch ist gleichzeitig literarische und biografische Annäherung an einen großen Mann. (dtv)
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