Erich Hackl: "Als ob ein Engel"
Erzählung nach dem Leben
Ähnlich
wie sich der österreichische
Schriftsteller Erich Hackl neben seiner eigentlichen literarischen
Produktion
immer wieder als Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand
gedrängter
Autoren betätigt, so lässt er in seinen eigenen
Werken Menschen zur Sprache
kommen, bringt Licht in das Dunkel ihres vergessenen,
gequälten oder
verachteten Lebens und erzählt Geschichten, für die
sich ansonsten vielleicht
niemand interessieren würde. Es handelt sich um
Originalgeschichten, die Hackl
minuziös mit viel Empathie und Leidenschaft recherchiert hat.
Es ist "ein
leises Schreiben, das vom Gespür für das leidende
Einzelwesen lebt, ein
Lichtblick in der verödenden geistigen Landschaft",
wie der leider
viel zu früh verstorbene Essayist und Kritiker Lothar Baier
Hackls Werk vor
vielen Jahren schon charakterisierte.
In seiner "Erzählung nach dem Leben" spürt Erich
Hackl der
Geschichte von Gisela Tenenbaum nach, die vermutlich am 8. April 1977
als
zweiundzwanzigjähriges Mitglied der Montoneros,
einer radikalen, fast
paramilitärischen Widerstandsgruppe in Argentinien, ums Leben
kam.
Nachdem er unzählige Interviews mit den Eltern, Geschwistern,
Freunden, Bekannten und
Nachbarn Gisis, wie sie liebevoll genannt wurde, geführt hat,
erzählt Hackl in
einer zarten, um Verständnis bemühten Sprache nicht
nur die Geschichte von
Gisela Tenenbaum und ihrem zunehmenden politischen Engagement, er geht
auch zurück
in die Familiengeschichte der Tenenbaums, als wollte er auch dort etwas
suchen,
das ihn, Gisis Verwandte und auch die Leser verstehen ließe,
was passiert ist
und warum.
Gisis Familie hat jüdische Wurzeln. Ihre Großeltern,
die den Namen Markstein
tragen, waren Wiener Juden, die rechtzeitig vor der Vernichtung das
Land
verlassen hatten und in Südamerika eine neue Zukunft suchten.
Entsprechendes
politisches Engagement war in der Familie üblich, und es wurde
viel diskutiert.
Mit diesen Diskussionen wuchs Gisi, die sehr früh im Sport
eine
Spitzenschwimmerin war, auf. Anfang der 1970er Jahre spitzte sich die
Situation
im Land zu. Mehrere Diktatoren hintereinander, kurz abgelöst
von Perioden mit
demokratisch gewählten Präsidenten, die aber immer
nach kurzer Zeit dem Druck
des Militärs weichen mussten, und die Übernahme der
us-amerikanischen
Sicherheitsdoktrin hatten die Souveränität und den
Wohlstand des Landes ausgehöhlt.
Hohe Arbeitslosigkeit und Inflation treiben die Menschen auf die
Straße.
Millionen setzen ihre Hoffnung auf Juan Perón, der am 20.
Juni 1973 aus seinem
spanischen Exil zurückkehrt. Doch sein "socialismo nacional"
wird in
Gisis Familie mit großer Skepsis betrachtet.
Gisi selbst gerät langsam unter den Einfluss
radikaleren Denkens, nicht weil sie, wie so viele Andere, von der
Gewalt
fasziniert ist und nach Macht strebt, sondern aufgrund ihres
ausgeprägten
Humanismus und ihres tiefen Mitgefühls mit den leidenden,
unterdrücken
Menschen.
Nachdem Gisi verschwunden ist, (es gibt bis heute keine
endgültige Gewissheit
über ihren Tod), verändert sich das Klima in der
Familie. Einzig der
Schwiegersohn von Gisis Eltern, der Ehemann ihrer Schwester, wird beim
Gespräch
mit Erich Hackl deutlicher. Er berichtet, dass keiner in der Familie
von Gisi
spricht: "Niemand, nicht einmal seine Frau (Gisis Schwester),
obwohl sie
Psychologin ist und jahrelang eine Analyse durchgemacht hat. Im selben
Moment,
in dem Gisi verschwunden ist, hat sie sich in ein Tabu verwandelt.
Niemand hat
mehr von ihr geredet. Als gäbe es da etwas zu verbergen."
Es sei auch nicht darüber geredet worden, was einmal aus ihr
hätte werden können.
"Nicht ein Wort. Als wäre sie weder tot noch
lebendig, sondern würde,
eine Art Engel, zwischen Himmel und Erde herumflattern."
Erich Hackl schildert eine Familie, die ihre Kinder sehr frei erzieht
und auch
Gisela keine Vorschriften macht, als sich ihr Weg langsam zeigt. Die
Familie
macht bei ihrer Konspiration mit, hat ihre Entscheidung für
den bewaffneten
Kampf respektiert, und dennoch liegt nach ihrem Verschwinden ein Trauma
über
der Familie, weil die Ungewissheit über ihr Schicksal die
Trauer verhindert.
Das Einzige, was sie haben, ist Trost. Am Ende sagt ihre Mutter: "Gisela
hat gelebt, wie sie hat leben wollen. Sie hat gemacht, was sie
für richtig
hielt, und niemand hatte sie davon abbringen können. Sie ist
aus freien Stücken
und im Wissen um das Risiko ihren Weg gegangen. Sie ist zu nichts
gedrängt
worden. Sie hat nicht klein beigegeben. Und immer wieder sage ich mir,
das war
ihr Weg. Das ist kein Trost, aber."
Ob Gisela Tenenbaum ihre Entscheidungen so getroffen hätte,
wenn sie geahnt hätte,
was ihr Weg und ihr Verschwinden über Jahrzehnte mit ihrer
Familie gemacht haben?
Diese Frage bleibt in Hackls Buch ungestellt, aber dem Rezensenten hat
sie sich
beim Lesen aufgedrängt. Jedes Handeln eines Menschen hat
für dessen Umgebung
Folgen. Würden wir sie immer vorher abwägen,
wären wir gar nicht lebensfähig.
"Als ob ein Engel" ist zugleich bewegende Lektüre und
bemerkenswerte
Darstellung der argentinischen Geschichte in den 1970er-Jahren.
(Winfried Stanzick; 11/2007)
Erich
Hackl: "Als ob ein Engel. Erzählung
nach dem Leben"
Gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2007. 170 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diogenes, 2009.
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Erich
Hackl wurde am
26. Mai 1954 in Steyr (Oberösterreich)
geboren. Er widmet sich in seinen Erzählungen
dem Kampf gegen das Vergessen. Ob sie von der spanischen Feministin und
Freidenkerin Aurora Rodriguez, dem Zigeunermädchen Sidonie
Adlersburg aus Oberösterreich
oder von der Oppositionellen Sara Méndez aus Montevideo
handeln, stets geht
Erich Hackl wahren Fällen nach, in denen das Schicksal
einzelner von einer
kollektiven Macht bedroht wird und auch in einem gewaltsamen Tod enden
kann.
Erich Hackl studierte in Salzburg und Málaga Germanistik und
Hispanistik und
war drei Jahre Lektor an der Universidad Complutense
in Madrid.
Zurück in Österreich,
war er Spanischlehrer an einer Mittelschule und Lehrbeauftragter an der
Universität Wien. Seit 1983 arbeitet Hackl
als
Übersetzer, Herausgeber und
freier Schriftsteller. Zahlreiche von ihm herausgegebene Anthologien
weisen ihn
als Kenner des spanischen und lateinamerikanischen Lebens und der
Literatur aus.