Hervé Guibert: "Mitleidsprotokoll"
Zum 15. Mal fand am 1. Dezember 2002 der "internationale Welt-AIDS-Tag" statt.
Es
gibt einige Veranstaltungen; in den Nachrichten wird wieder einmal auf AIDS hingewiesen.
Das ganze Jahr über wird ansonsten die Decke des Schweigens über die tödliche
Krankheit gelegt. Die betroffenen Menschen geben das perfekte Bild der tabuisierten
Gesellschaftsgruppe ab; als ob Menschen durch ein Merkmal gekennzeichnet sein
könnten.
Der Franzose Hervé Guibert hat vor vielen Jahren den Kampf
gegen AIDS verloren. Seine beiden Romane "Dem Freund, der mir das Leben nicht
gerettet hat" und "Mitleidsprotokoll" setzen sich in radikaler Form mit dem Leiden
an der Krankheit auseinander. Es spricht ein Betroffener zum Leser, und es erstaunt,
dass der Autor mit Humor, Zynismus und Distanz sein
eigenes
Sterben vorwegnimmt. Was Guibert den interessierten Menschen mit
seinem "Mitleidsprotokoll" sagen will, ist ganz einfach: Es tut furchtbar weh,
eine Krankheit zu haben, die stetig voranschreitend ein katastrophales Ende
nehmen wird, ehe der Tod die Erlösung bringt.
Es
ist unglaublich, dass Menschen mit AIDS nach wie vor mit einem Brandmal auf der
Stirn durch das Leben gehen müssen. Trotz intensiver Aufklärung scheint es nicht
möglich zu sein, Ressentiments endgültig auszumerzen. Die auf Jugendlichkeit und
Gewinnstreben getrimmte
westliche Gesellschaftsideologie scheitert überall dort, wo der Marktwert eines
Menschen nicht mehr existiert.
Was auf die Alten und Schwachen zutrifft, trifft
in unbarmherziger Härte ebenso auf die Menschen mit AIDS zu. Daran haben auch
allerlei Plakataktionen, Informationskampagnen, Werbefilme usw. nichts ändern können.
Der AIDS-infizierte oder AIDS-kranke Mensch ist mit einem Stigma behaftet, das
ihn von seinen Mitmenschen scheinbar unterscheidet.
Guibert schreibt die furchtbare Wahrheit; er lässt hineinblicken in Seele und
Körper eines Menschen, dessen Leben aus allen Fugen geraten ist. Er beobachtet
sich und stellt Dinge fest, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Seine in
seinem Körper vor sich gehende Vernichtung von Lebenssubstanz muss er
akzeptieren. Es ist nicht möglich, in die Figur des Erzählers zu schlüpfen. Es
kann nicht möglich sein. Und gerade deswegen muss es möglich sein,
Menschen, die AIDS haben, nicht von vornherein als gesellschaftlich inakzeptabel
abzustempeln. Es ist eine Botschaft, die in erster Linie an die gesunden
Menschen gerichtet ist.
Die
Gesellschaft ist krank, und gerade deswegen verachtet sie die Krankheit.
Nur wer reibungslos funktioniert, kann gesellschaftlich akzeptiert sein. Doch
der Mensch ist nicht funktional; er ist multifunktional, da er Geist,
Seele
und Körper miteinander in Bezug bringen kann. Guibert war keine Krankheit, sondern
litt unter einer Krankheit. Dieser Unterschied sollte ganz klar hervorgestrichen
sein. Einseitige Vorstellungen von Menschen schaffen jene Kultur des Roboters,
der seinen eigenen Untergang nicht begreifen kann.
Der Mensch leidet an seiner
eigenen Unzulänglichkeit am meisten. Er leidet am meisten darunter, sich mit
anderen Menschen zu vergleichen und dabei vielleicht den Kürzeren zu ziehen. Guibert sieht sich radikal
selbst; er bewertet weder sich noch Andere. Der Mensch
ist Mensch nur, wenn er sich verhält. Er definiert sich durch die Beziehungen,
die nach außen sichtbar sind. Und noch mehr definiert er sich durch seine
Einstellung,
die er den Menschen gegenüber an den Tag legt. Was oberflächlich betrachtet
pathetisch anmuten mag, ist jene Situation, durch die sich der Mensch Tag für
Tag selbst bestimmt. Einem Zeitgenossen beim Sterben zuzusehen, gilt als verpönt.
Guibert verstarb im Jahre 1991 im Alter von nur 36 Jahren. Aber er hat ein Buch
geschrieben, das weit über alle Grenzen, die zwischen Menschen aufgebaut sein
können, eine Botschaft in den Himmel schreibt:
"Ich bin, der ich bin".
Ja, wir alle sind nur Menschen, die einander Furchtbares
antun können. Es tut gut, einmal innezuhalten und mit jenen Menschen solidarisch
zu sein, die unsere uneingeschränkte Akzeptanz als Selbstverständlichkeit erleben
wollen. Die Seuche schreitet
insbesondere
auf dem afrikanischen Kontinent Jahr für Jahr voran, und es ist nur
zu hoffen, dass bald Medikamente - die AIDS bekämpfen - auf den Markt kommen,
von denen auch die Menschen aus den Entwicklungsländern profitieren können.
(Al Truis-Mus; 11/2002)
Hervé Guibert: "Mitleidsprotokoll"
Rowohlt, 1994.
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