Sabine Gruber: "Die Zumutung"


Den Tod in einen Roman verwickeln

Schick ist es dieser Tage, den eigenen Körper nach seinen Vorstellungen verändern zu lassen. Diverse Illustrierte, Tageszeitungen und exklusiv über den Bildschirm flimmernde Reportagen klären uns Tag für Tag großzügig über den Katalog jener Maßnahmen auf, die der allzu kümmerlichen Schönheit nachhelfen sollen: Nasenkorrekturen, Fettabsaugungen, Brustvergrößerungen, das Aufspritzen schmaler Lippen, das Anheben hängender Pobacken. Nicht billig, aber leistbar. Und wem das Geld dazu fehlt, der lässt sich eine neue Nase eben schenken. Zu Weihnachten. Oder zum Geburtstag: ein neuer, ansehnlicherer Mensch ist geboren.

Einen fulminanten Kontrapunkt zu diesem Kult körperlicher Ausbesserungen setzt Sabine Grubers Roman "Die Zumutung".

"Man muß schon sehr eloquent sein, um in dieser unaufhörlichen Flut utopischer Körper dem Häßlichen etwas entgegensetzen zu können, das von ihm ablenkt." (S. 129)
Mit dieser Bemerkung nähert sich Beppe, der für seine Begriffe - die natürlich die Begriffe der Gesellschaft sind, in der er lebt - zu dick geratene Geliebte Mariannes, der Hauptfigur und Ich-Erzählerin des Romans, einem der Kernthemen des Buchs: der Befindlichkeit eines physisch kranken Menschen in einer Welt, die nur physisch Gesunde und Tüchtige anzuerkennen versteht. Zugleich bezeichnet Beppe in seiner Aussage auch die hohe sprachliche Qualität des Erzählens der Autorin, eine Qualität, die sich mit dem raffinierten Aufbau des Romans zu einem überzeugenden literarischen Resultat verbindet: Der Tod, der knalleffektartig gleich zu Beginn des Romans von der Ich-Erzählerin - sie fantasiert ihr eigenes Begräbnis - beschworen wird, um dann zeitweise wieder zurückzutreten, ergreift mit Fortdauer der Erzählung immer deutlicher Besitz von der Befindlichkeit Mariannes und damit vom Erzählinhalt. Die Todesschlinge, so könnte man sagen, zieht sich mit zunehmender narrativer Entwicklung immer enger um den Text. In der Mitte der Erzählung (S. 134) erfährt der Leser dann endlich die Diagnose jener Krankheit - eine schwere Nierenerkrankung -, an der Marianne leidet und die ihr Leben jeden Tag fühlbarer zu dem macht, was es für alle von uns ist: ein stetiges Vorwärtsschreiten auf den Tod zu.

"Die eigentliche Tortur besteht darin, daß Sie ein Leben lang Ihre Todesursache zu kennen glauben. Wenn wir anderen mit der Wahrscheinlichkeit leben, alt zu werden, so leben Sie mit der Zumutung, über Ihren Tod Bescheid zu wissen" (S. 45), lässt Sabine Gruber wiederum Beppe mit Bezug auf den Romantitel analysieren.

Der todbringende körperliche Defekt also bestimmt diesen Text, der dem fortschreitenden physischen Verfall allerdings vehement die Kunst des eigenen Erzählens entgegensetzt. Vor diesem Hintergrund ist eine der wesentlichen Erzähltechniken des Romans zu verstehen: die zeitliche Abfolge der Ereignisse wird missachtet, die narrative Instanz ordnet sie nach eigenem Gutdünken. Der auf den Tod weisende Zeitpfeil, so könnte man sagen, zersplittert in seine einzelnen, desorientierten Teile, da er auf ein mächtigeres Prinzip trifft, das Prinzip des Erzählens. Die erzählende Marianne, so heißt es folgerichtig im Roman, gebe sich "alle Mühe, die Zeiten durcheinanderzubringen" (S. 212). Sie fühlt sich sicher einzig "in der erzählten Zeit, diesem Jetzt, das schon lange war und immer sein wird." (S. 183)

Eingeschrieben in diese narrato-logische Struktur präsentiert der Roman die Geschichte einer jungen Frau, eben Mariannes, in deren Leben oben erwähnte schwere Krankheit einbricht, um in wachsendem Maße die Lebensbezüge Mariannes zu beeinträchtigen und zu zerstören. Der Fokus der Ich-Erzählerin liegt dabei auf ihren Männer-Beziehungen, die mehr und mehr unter dem Zeichen des körperlichen Gebrechens der Erkrankten stehen. Anfänglich heißt es im Zusammenhang mit Ex-Freund Leo noch:
"Dein Gesicht ist eine Bühne", sagt Leo in der Mensa, und ich erschrecke, glaube einen Augenblick lang, meine Sehstörungen seien nach außenhin sichtbar. Ich laufe auf die Toilette, schaue in den Spiegel und sehe nichts (...)". (S. 63)
Anlässlich einer viel späteren sexuellen Affäre mit Michael ist dann schon zu lesen:
"Als Michaels Finger über meine Unterarme strichen, dachte ich an die Griffe der Krankenschwester. In meiner Vorstellung tränkte sie die Tupfer mit Desinfektionsflüssigkeit und zog die Spritze auf. War da eine Hand, die mich streichelte, oder fühlte da jemand meinen Puls?" (S. 208)

Die Fülle an sensiblen Beobachtungen aus Mariannes Alltag ebenso wie die präzise Zeichnung der Personen, mit denen es Marianne zu tun hat, und ihrer Reaktionen auf Mariannes Zustand ermöglichen dem Leser auf eindringliche Weise das Nachvollziehen der prekären Situation, in der sich die schwer Erkrankte befindet, eine Situation, gekennzeichnet durch den fortschreitenden Verlust an Attraktivität und Vitalität.
Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit aber bedeutet für die intellektuell-souverän Erzählende zugleich eine besondere Hellsichtigkeit, eine besondere Einsicht in jenes Phänomen, das da "Leben" heißt, und damit eine besonders intensive Beziehung zu ihm:
"Irgendwann stand die Holzkiste vor mir und war nicht mehr wegzudenken; ganz gleich, wohin ich mich drehte oder wendete, ob ich mich neben, vor oder hinter sie stellte: sie blieb in meinen Augenwinkeln. Und wenn ich - selten genug - auf sie draufsprang, so war mir klar, daß zwar die Kiste aus meinen Augen verschwunden war, aber daß ich diesen einzigartigen Ausblick, diese Einsicht ins volle Leben, ihrer ständig spürbaren Existenz verdankte." (S. 20)

Dass es dem Text - mindestens auf seinen besten Seiten - gelingt, auch dem Leser, der sich auf "die Zumutung" einzulassen versteht, den beschrieben Erkenntniszusammenhang von Tod und Leben nahe zu bringen, darin liegt eine weitere, unzeitgemäß wesentliche Qualität von Sabine Grubers jüngstem Opus.

Sabine Gruber wurde 1963 in Meran geboren. Sie studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien und war von 1988 bis 1992 Universitätslektorin in Venedig. Sabine Gruber lebt in Wien. Sie erhielt u. a. den Förderungspreis der Stadt Wien, das Solitude-Stipendium, den Priessnitz-Preis und den Förderungspreis zum österreichischen Staatspreis sowie das Heinrich-Heine-Stipendium der Stadt Lüneburg.
Neben Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken veröffentlichte sie den Roman "Aushäusige" (1996), zuletzt den Lyrikband "Fang oder Schweigen" (2002).

(Mag. Alexander Arbeiter; 06/2003)


Sabine Gruber: "Die Zumutung"
C. H. Beck, 2003. 224 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Bücher der Autorin:

"Stillbach oder Die Sehnsucht"
Als ihre beste Freundin Ines in Rom plötzlich stirbt, reist Clara Burger aus Stillbach in Südtirol an, um Ines' Haushalt aufzulösen. Dabei entdeckt sie ein Romanmanuskript, das im Rom des Jahres 1978 spielt, dem Jahr der Entführung und Tötung Aldo Moros. Darin beschreibt Ines offenbar ihre eigene Ferienarbeit vor mehr als dreißig Jahren als Zimmermädchen im Hotel "Manente", schreibt von Liebe, Verrat und Subversion, erzählt aber die Geschichte ihrer Chefin Emma Manente, die seit 1938 in Rom lebt und zum Leidwesen ihrer Südtiroler Familie einen Italiener geheiratet hat.
War sie tatsächlich Johann aus Stillbach versprochen gewesen, der 1944 bei einem Partisanenanschlag in Rom getötet worden war? Und ist der Historiker Paul, den Clara in Rom kennenlernt, der Geliebte von Ines aus jenem Jahr? Wie wirken die Spannungen um Südtirol und seine Zugehörigkeit seit der NS-Zeit und dem Faschismus bis heute nach?
In diesem großen, wunderschön geschriebenen Roman erzählt Sabine Gruber spannend und präzise von der Verflechtung persönlicher und historischer Ereignisse, von Stillbach und von Rom, von Verrat und Verbrechen, von Sehnsucht, Wahrheit und neuer Liebe. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

"Daldossi oder das Leben des Augenblicks" zur Rezension ...

"Über Nacht"
Ein einziger schicksalhafter Augenblick verändert Leben.
In ihrem Roman erzählt Sabine Gruber die Geschichte zweier Frauen in zwei verschiedenen Städten, Mira in Rom und Irma in Wien. Beide Frauen leben mit einem beunruhigenden Verdacht: Mira ist Altenpflegerin und sorgt sich um ihre Ehe. Der eigene Mann wird ihr immer fremder, sie findet sich in der Rolle der Detektivin wieder, spioniert ihm hinterher. Warum schläft ihr Mann nicht mehr mit ihr? Irma zieht ihr Kind allein groß, sie ist Kulturjournalistin und interviewt Menschen mit aussterbenden Berufen, stellt sich aber vor allem selbst Fragen: Wer ist der Tote, der ihr mit seinem Spenderorgan ein neues Leben ermöglicht? Wie lebt es sich mit einem fremden Teil im eigenen Körper? Wie als Überlebende? Zwei Frauen auf Spurensuche, zwei Frauen voller Liebes- und Lebenssehnsucht. Was verbindet die beiden?
"Über Nacht" ist auch ein Buch über das Alter als Realität und Utopie, über den Zufall als Lebens- und Todesmacht und über die Verquickung von Leben und Schreiben. Locker anknüpfend an die Thematik ihres vielgelobten Romans "Die Zumutung", erzählt Sabine Gruber in ihrer schönen, bilderreichen Sprache von den Überraschungen des Lebens und der Willkür des Gerettetwerdens, von der Zerbrechlichkeit der Liebe und dem Aufflammen einer neuen, von Freundschaft und Fürsorge und vom Tod, der erfinderisch macht. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen