Marianne Gruber: "Ins Schloss"
"Als K. erwachte, war es früher Vormittag ..."
Franz
Kafka hat bekanntlich keinen einzigen seiner drei letzten
großen Romane vollendet. Am schmerzhaftesten ist dies beim
"Schloss" spürbar, da aus dem Vorhandenen der Schluss nicht
hergeleitet werden kann, wenngleich ein Scheitern der Hauptperson K.
quasi stringent erscheint. Der Überlieferung
Max Brods
gemäß hat Kafka folgendes Ende vorgesehen gehabt:
Dem angeblichen Landvermesser wird wenigstens teilweise Genugtuung
zuteil, auf dem Sterbebett erfährt er, dass sein Antrag auf
Einstellung vom Schloss angenommen wurde, was seinen bevorstehenden Tod
friedvoller erscheinen lässt.
Nun hat Marianne Gruber Kafkas Roman keineswegs "vollendet", wie der
Umschlagklappentext etwa suggeriert. Vielmehr hat sie einen NEUEN Roman
geschrieben, der an den von Kafka skizzierten Schluss unmittelbar
anschließt. Diesen Kafka'schen Schluss wiederum
lässt sie unmittelbar nach dem Schluss des vorhandenen
Manuskripts einsetzen, er bildet sozusagen das ungeschriebene
Bindeglied zwischen Kafkas und Grubers Texten. Offenbar verfiel K. also
nach den letzten an ihn gerichteten Worten der Wirtin, die Kafka noch
aufgeschrieben hatte, in einen Todeskampf, dem er in weiterer Folge
scheinbar unterlag, was von der Bewohnerschaft nicht nur mitleidlos
sondern mit einer gewissen Befriedigung zur Kenntnis genommen wurde.
Grubers Roman setzt nun nach K.s Erwachen aus diesem Todesschlaf oder
vielmehr todesähnlichen Schlaf ein. Es ist alles nicht wahr
gewesen, K. war nur scheintot, die Dorfbewohner sind
äußerst beunruhigt.
Grubers Roman spielt, wenngleich Zeit, Ort und die handelnden Personen,
ja selbst das spezifisch Kafka'sche Idiom gleich geblieben sind, in
seiner eigenen Welt und hat seine eigene Gesetze. Musikalisch gesehen
könnte von einer "Spiegelung" gesprochen werden: Anstelle der
kafkaesken pessimistischen Stagnation, die längerfristig ein
stetiges Absinken darstellt, ist ein kontinuierlicher
Aufwärtstrend getreten. Gleich zu Beginn wird schon
spürbar, dass K. nicht mehr derselbe wie früher ist,
dass er nun die erforderlichen Kräfte mitbringt, um den Kampf
gegen Bewohnerschaft und Schloss,
der in Wahrheit zugunsten Erstgenannter stattfindet, nicht nur
auszutragen sondern auch siegreich zu beenden. Ein frischer Wind tut
sich auf, alles ist heller, freundlicher. Auch diese Fortsetzung spielt
im Winter, folglich schneit es die meiste Zeit, was aber mehr an
Winterzauber als an die bedrückende Stimmung der Kafka'schen
Vorlage gemahnt. Sogar die Liebe spielt im neuen Leben K.s eine
bedeutende Rolle. Der glückliche Ausgang ist ebenso stringent vorprogrammiert
wie das Scheitern bei Kafka.
Das Vorgehen der Autorin ist also in seinem Wagemut
äußerst bewundernswert, noch mehr allerdings ihr
Selbstbewusstsein, gilt es doch, in einer fremden literarischen Welt,
die ein Anderer, noch dazu (bei allem Respekt vor Marianne Gruber) ein
Größerer, an dem sie sich stets messen lassen muss,
vorgegeben hat, zu bestehen, was sie bravourös meistert.
Kafka-Freunde sollten sich also nicht durch die, wie sie meinen
mögen, dreiste Anmaßung vor dem Kopf
stoßen lassen, vielmehr sollten sie genießen, etwa
zweihundert im Idiom ihres Meisters gehaltene Seiten lesen zu
dürfen und Marianne Gruber ob dieser Leistung
bewundern.
Marianne Grubers K. ist also die Antwort des modernen
aufgeklärten Menschen auf Kafkas bedrückende, von
düsteren Autoritäten beherrschte Welt. Ob dies gerade
aus moderner, also zeitgenössischer Sicht im Sinne von
realitätsgetreu zutreffender sein mag, soll hier besser
dahingestellt bleiben. Der Leistung Grubers jedenfalls tut auch die
Aussage, dass Kafkas Vision die hellsichtigere ist, keinen Abbruch.
(Franz Lechner, 04/2004)
Marianne
Gruber: "Ins Schloss"
Haymon, 2004. 256 Seiten.
ISBN 3-85218-447-9
ca. EUR 17,90.
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...
Frieda seufzte. Das bedeutet, daß du morgen ins
Schloß gehen wirst.
Ja, sagte K.
Obwohl du nicht weißt, was dich erwartet, obwohl wir es dir
alle sagen könnten. Nein, verbesserte sie sich. Du wirst
hingehen, weil du nicht weißt, was dich erwartet.
Ja, sagte K.
Du wirst alle Geheimnisse aufreißen, bis sie bluten.
Nein, sagte K., ich werde nur sehr allein sein.
(…)
Der Boden unter seinen Füßen wurde härter,
der Schnee glatter. Spuren von Rädern und Schlitten
ließen sich erkennen. K. wich ihnen aus, stieg am Rand des
Weges bergan, wo es weniger eben, aber auch weicher war, und stand nach
der nächsten Biegung unerwartet vor der Einfahrt in das
Schloßstädtchen. Der Wald hatte Tor und Mauer bis
zuletzt verborgen. Die Türflügel standen offen. K.
nickte dem Pförtner
zu und folgte den Spuren auf dem Boden. Noch immer stieg der Weg an. K.
ging an Häusern vorüber, die höher waren,
auch fester gebaut schienen als die der Bauern
im Dorf, sich aber in kaum besserem Zustand befanden. Von den
Gebäuden, die nicht aus Stein erbaut waren, blätterte
der Verputz ab, Verzierungen, die von einer blühenden, wenn
nicht prunkvollen Vergangenheit zeugten, waren abgebrochen. Hier hatte
man lange nichts neu hinzugebaut und auch kaum Hand angelegt, um das
Gegebene zu erhalten. Da und dort sah er Menschen Körbe und
Truhen schleppen, Wagen standen in den engen Gassen, in die K. einen
flüchtigen Blick warf, und wurden beladen. Die Türen
der meisten Häuser standen offen, und K. sah, daß
man auch dort damit beschäftigt war, Möbel zu
verrücken und Hausrat neu zu ordnen. Manchmal nickte man ihm
zu. Aus einem Haus tönte Gezänk, aus einer
Kellerschenke Lärm. Irgend jemand rief nach seinem Hund, eine
Frauenstimme verlangte nach einem Gehilfen. Vor dem
Hauptgebäude, an das ein Turm angebaut war, weitete sich die
Straße zu einem kleinen Platz. Leere Wagen standen da,
Kutschen, aber auch Leiterwagen. Die Pferde waren angebunden, die
Kutscher irgendwo anders. K. hielt an. Auch hier stand das Tor offen,
und er konnte in den Innenhof hineinsehen. Diener schleppten Kisten und
Kasten. Einen erkannte er wieder. Er war unter den Gästen des
Herrenhofs am vergangenen Abend gewesen.
Erst ein Tag, dachte K. Es ist erst ein Tag vergangen, und doch scheint
die Zeit über Jahre hinweggestürzt zu sein. Er betrat
den Hof, trat zu dem Mann und fragte ihn ohne Umschweife nach dem
Empfangszimmer des Herrn.
Ich bin angemeldet, sagte K.