Ulrich Greiner: "Ulrich Greiners Leseverführer"
Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur
Gelesen für Leser
Die meisten Buchhändler sind Buchhändlerinnen, und die meisten Leser
sind Leserinnen - dies ist beileibe nicht die zentrale Erkenntnis
dieses vorliegenden Buches, welches "Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen
schöner Literatur" (Untertitel) sein möchte. Der Autor (Jahrgang 1945)
ist verantwortlicher Ressortleiter Literatur bei der "ZEIT".
Er möchte uns hier vermitteln, dass wir als leidenschaftliche Leser
"anders aus einem Buch herauskommen, als (wir) hineingegangen sind"
(vgl. Zum Geleit).
Greiner eröffnet mit der These: "Literatur zu schreiben und zu lesen ist eine
hochentwickelte Form des Eskapismus." Er attestiert dem "wirklichen Leser" ein
"Sensorium für die Möglichkeitswelt hinter dem Alltag", welches "oft aus einem
Gefühl des Mangels entsteht." Für Greiner ist die Welt der Literatur nämlich
einerseits eine "Gegenwirklichkeit", andererseits können in der Literatur "alle
Wirklichkeiten nebeneinander bestehen." Lesen hat nach Greiner (und seiner speziellen
Erfahrung mit "Anton Reiser") u.a. eine psychohygienische um nicht zu sagen
kathartische Wirkung. In selbstironischer Souveränität verweist Greiner allerdings
auch darauf, dass die
übermäßige
Lektüre von Ritterromanen bei Don Quijote zu den sattsam bekannten krankhaften
Auswüchsen geführt hat.
Greiner belehrt uns, dass es im Roman über die handlungskonstituierenden - ebenso
erfundenen wie vordergründigen - Details hinaus auch eine "höhere Wahrheit"
gebe. Dabei könne der Roman "niemals die Wirklichkeit selbst sein (...) so sehr
er auch von ihr abhängt." Während Greiner übrigens einerseits mit seinem Untertreiben
kokettiert, Andere seien viel belesener als er (und man müsse Bücher auch gar
nicht wirklich gelesen haben, um über sie zu reden), illustriert er andererseits
wie selbstverständlich seine Ansichten mit jeder Menge Leseerfahrungen. Dabei
kommt der Autor auch darauf, dass das Unglück ein interessanteres Thema für
die Literatur sei als das Glück. Und was sich noch herauslesen lässt: Verlierer
sind interessant - aber nicht weil sie verlieren, sondern weil sie Gefühl zeigen!
Wenig hoffnungsvoll erscheint die These, dass die meiste "gute" Literatur "schlecht"
ausgeht und dass es wenig gute komische Literatur gibt.
Eine ebenso banale Empfehlung wie mutiges Geständnis Greiners besagt, dass man
Bücher nicht bis zum Ende gelesen haben muss - vor allem bei den anspruchsvollen
gehe es ihm wie
Musil:
"mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter
Widerstand." Das sollte nicht banausisch missverstanden werden - denn Literatur
ist dazu da, "der menschlichen Selbstwahrnehmung auf die Spur zu kommen." Freilich
sind sowohl Erzähler als auch Leser dabei frei in ihrer Entfaltung.
Greiner erläutert uns - auch für literaturwissenschaftliche Laien
verständlich - die Wirkung der unterschiedlichen
Erzähl(er)perspektiven, und er problematisiert noch einmal ausdrücklich
das sensible Verhältnis
zwischen Roman und Realität. Er geht auch auf das progressive
Verhältnis
"Leser - Gelesenes" ein und gelangt - wie weiland schon Sartre übrigens ("Lesen ist gelenktes Schaffen") - zu der Erkenntnis:
Der "Leser (ist) der wahre Autor", denn "in seinem Kopf entsteht die Welt des gelesenen Buches."
Nun, eigentlich wussten wir das schon seit unserer
Karl May-Lektüre
(oder war es bei Mark Twain?) - jedenfalls folgerichtig erläutert uns
Greiner noch, wie
Italo Calvino
genau mit diesem Prozess des allmählich entstehenden Gelesenen beim
Lesen spielt. Der anspruchsvolle Leser lässt sich auch gerne auf
Raffinessen und Komplikationen ein - er liebt die intellektuelle
Irritation.
Letztendlich bleibt die Einsicht, dass "die Anerkennung literarischer
Größe eine Sache - die lesend-liebende Hingabe an ein Werk eine andere"
ist. Worum sich Greiner windet: eine Art offiziellen Kanon der
unbedingt zu lesenden Bücher aufzustellen (was sich
MRR
ja vehement traut!) - allerdings liefert er uns implizit mit seinen
zitierten Beispielen eine vorbildliche Lektüreliste! Und er postuliert
am Schluss: Es gibt "kanonische Texte" - und zu denen möchte uns das
vorliegende Buch wohl auch hinführen - wenn es uns vorher zu genügend
freischwebender Lektüre verführt hat.
(KS; 12/2005)
Ulrich
Greiner: "Ulrich Greiners Leseverführer"
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2005. 215 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2007.
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