Jean-Christophe Grangé: "Das Imperium der Wölfe"


Großmeister Grangé am Gipfel der Krimi-Kunst

Jean-Christophe Grangé ist nach Ansicht des Rezensenten einer der kreativsten Köpfe in der Kriminalliteratur der Gegenwart. Geschickt vereint er die klassischen Bestandteile des Genres mit Exkursen in die Grenzbereiche der Naturwissenschaft oder lässt einen eintauchen in Jahrhunderte alte Mythen. Das Handlungsnetz, das er knüpft, ist fein und dicht zugleich. Wenig ist vorhersehbar, überraschende Wendungen garantieren Spannung. Das begann in seinem mittlerweile zum Klassiker avancierten "Die purpurnen Flüsse" und setzt sich in "Das Imperium der Wölfe" fort.

Am Anfang dieses Werks von Grangé steht eine ekelerregende Mordserie an drei jungen, rothaarigen Frauen im Pariser Türkenviertel. Die Opfer wurden grausam gefoltert, ihre Gesichter verstümmelt - und das auf eine Art und Weise, dass sie den Steinköpfen der archäologischen Ausgrabungen von Nemrud Dag glichen: ohne Kinn, Lippen und Nase. Die Handschrift eines Serienmörders oder jene von Todesschwadronen?

Der idealistische Polizist Paul Nerteaux wird zum Hauptermittler bestimmt. Doch seine Recherchen stocken. Ohne Wissen der Vorgesetzten zieht er den zwielichtigen Ex-Kollegen Schiffer hinzu, der mittlerweile inkognito im Altersheim lebt. Schiffers Name bleibt Programm. Einerseits ist er eine rätselhafte "Chiffre", andererseits - je nach Leseart - ein Mann aus "Eisen" ("fer" im Französischen). Das Türkenghetto samt tonangebender Mafia kennt er wie seine Westentasche. Grangés gute alte Idee eines ungleichen Polizistenduos ging schon in "Die purpurnen Flüsse" voll auf.

Eigentliche Hauptakteurin ist aber Anna Heymes, die junge Frau eines hohen Polizeioffiziers im französischen Innenministerium. Sie leidet unter teilweiser Amnesie, wird von fratzenartigen Halluzinationen geplagt. Irgendwer hatte versucht, die Landkarte ihres Gehirns neu zu zeichnen; vor allem, was ihre Erinnerungen betrifft. Hatte sie etwas gesehen, was sie nicht sehen durfte? Was hat es mit "Projekt Morpho" auf sich? Mehr und mehr wird es der Dame zur Gewissheit, dass sie nicht die ist, die sie annimmt zu sein.

Nicht genug der Rätsel. Je mehr Nerteaux und Schiffer mit ihren Recherchen vorankommen, desto deutlicher zum Tragen kommt ein alter türkischer Mythos, jener von der Wölfin Asena, die mit ihrem Rudel vor langer, langer Zeit das Turkvolk vor dem Untergang bewahrt haben soll. Faschistische Fanatiker, die Bozkurt ("Grauen Wölfe"), nehmen diese Legende todernst und planen ein neues Großreich Turan. Die absurden Wahnideale des Rechtsextremismus - die es zu demaskieren gilt - scheinen ein wiederkehrendes Leitmotiv Grangés zu sein. In "Die purpurnen Flüsse" ging es um eine Herrenrasse? Nun lauert "Das Imperium der Wölfe".

Als die Handlungsstränge zusammenlaufen, passiert ein erstes Finale auf dem Pariser Promifriedhof Père-Lachaise: Urnen explodieren im Kugelhagel, Asche vermengt sich mit Drogenpulver. Ein zweiter Höhepunkt passiert am Bosporus - mitten im Herzen der türkischen Mafia. Wieder fließt Blut, splittern Knochen. Leichen im Ausmaß von "Macbeth" pflastern den Weg, ehe der Roman in Anatolien, am Gipfel des Nemrud Dag, kulminiert. Vor den leblosen Augen der steinernen Götterköpfe erscheint die Nemesis in Gestalt einer Frau. Nur noch ein Schuss, dann ist alles vorbei ...

(lostlobo)


Jean-Christophe Grangé: "Das Imperium der Wölfe"
Deutsch von Christiane Landgrebe.
Bastei Lübbe, 2005.
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