Julien Gracq: "Gespräche"


Eine Publikation von dokumentarischem Rang

Die Interviews, die Julien Gracq im Laufe seines nun schon fast hundert Jahre währenden Lebens gegeben hat, sind rar. Eine Tatsache, die den Stellenwert der in diesem Band abgedruckten Gespräche erhöht. Und es handelt sich hier in der Tat um eine Publikation von dokumentarischem Rang. Julien Gracq war nie ein Freund des Medienspektakels. Daraus resultiert auch seine Zurückhaltung gegenüber Journalisten und anderen Medienvertretern, aber auch in der Öffentlichkeit, seinen Lesern gegenüber, hielt er auf vornehme Distanz. "Ich beteilige mich nicht an den automatischen Signierstunden in den Kaufhäusern. Ich denke, dass die Widmung ein Zeichen der Freundschaft für jemanden ist, den man kennt, und für einen Unbekannten sinnlos ist. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher ins Schaufenster zu stellen." Und nach seiner Meinung besteht die wesentliche Arbeit des Autors immer noch darin, Bücher zu schreiben, und nicht "im Rundfunk zu quatschen, in den Fernsehstudios herumzustolzieren oder mit den Schülern der Grundschule über seine Bücher zu diskutieren."

Viele haben ihm diese Haltung als Arroganz ausgelegt. Ein Vorwurf, den Julien Gracq von sich weist, und den auch der Leser vorliegender Gespräche gewiss nicht gegen ihn erheben wird. Im Gegenteil, wir erleben in den hier veröffentlichten Gesprächen die Manifestation einer sowohl literarischen als auch menschlichen Größe. Keine narzisstische Selbstdarstellung, eher eine dezente Bescheidenheit, man kann aus den Worten des Dichters eine gleichsam asketische Noblesse seines Charakters erahnen. In einem Gespräch mit Jean-Paul Dekiss aus dem Jahre 2000 zum Beispiel sagt er über den alternden Schriftsteller, den er ja auch selbst verkörpert: "Ich denke, dass ein Schriftsteller zu einem gewissen Zeitpunkt mit seiner Epoche verzahnt ist, und dass er am Ende zwar sehen kann, was sich abspielt, es aber nicht mehr wiedergeben kann, weil er es sich nicht genügend zu eigen gemacht hat. Weil er schon gealtert ist, kann er sich nicht mehr anpassen." Falsche Bescheidenheit? Im Gespräch demonstriert uns Julien Gracq auch nach neun Jahrzehnten hier auf dieser Erde noch einen äußerst präsenten Verstand, der unbedingt auf der Höhe seiner Zeit steht. Als ein belesener Dichter und Denker präsentiert er sich in den Interviews, als ein Autor, dessen grandioser Sprachsinn sich hier auch im mündlich geäußerten Wort offenbart. Über das Wesentliche der Sprache für einen Schriftsteller äußert er sich wie folgt: "Ein ständiger Umgang mit der Sprache durch das Schreiben und Lesen ist natürlich wesentlich. Dann ein Gespür, das sich mit der Übung verfeinert, aber teilweise von Anfang an vorhanden ist - ein Tastsinn für das Wort, seine Obertöne und seine verborgenen Korrespondenzen, für das, was ich als seine 'unterirdischen Verbindungen' bezeichne."

Auch Gracqs Interviewpartner haben ihren gebührenden Anteil am Gehalt dieses Buches, es ist ein komplementäres Zusammenwirken zwischen ihnen und Gracq. Auch der Fragensteller trägt schließlich Verantwortung dafür, dass das Interview Funken schlägt, er fungiert sozusagen als Kontrapunktierender, als Geburtshelfer für die Ideen seines Gesprächspartners. Alle hier fragenden Autoren, Kritiker und Literaturwissenschaftler verstehen sich auf diese Kunst der Gesprächsführung. Es sind im einzelnen: Jean-Louis de Rambures, Jean-Louis Tissier, Jean Roudaut, Jean Carriere, Jean-Paul Dekiss und Bernhild Boie. Die Themen der Gespräche sind natürlich vor allem literarischer Natur, und vornehmlich die französische Literatur wird diskutiert. Gracq spricht auch über seine Arbeitsmethoden, dann über seine Bewunderung für Jules Verne, Edgar Allan Poe und Ernst Jünger. Das Gespräch mit Jean-Louis Tissier dagegen ist ganz der Geografie gewidmet. (Julien Gracq war Lehrer für Geografie). Im Interview mit Jean-Paul Dekiss, Präsident des internationalen Jules Verne Zentrums, steht das Werk von Jules Verne im Mittelpunkt. Wobei ich persönlich seine Bewunderung für Jules Verne nicht nachvollziehen kann. Das mag daran liegen, dass ich Jules Verne nie als Kind gelesen hatte, sondern erst als Erwachsener. Julien Gracq meint zu diesem Punkt, dass es da zwei Ebenen der Lektüre gibt, einmal, wenn man Jules Verne als Kind gelesen hat, das ist die Ebene der Entdeckung, die Ebene einer gewaltigen Offenbarung, und wenn man ihn im Alter wieder liest, dann kommt eher das Urteil über die Schreibweise, über die Mittel und über die Qualität des Stils zum Tragen, womit er Bezug nimmt auf die Schwächen der Romane Jules Vernes.

Selbstverständlich wird auch über die anderen Kunstformen gesprochen, nicht so sehr über die Malerei, wie man das von einem dem Surrealismus nahe stehenden Autor vielleicht hätte erwarten können, sondern mehr über die Musik, eine Kunstform, der Julien Gracq näher steht als der Malerei, namentlich der Musik Richard Wagners. Gracq über Wagner: "Er ist eine unerschöpfliche Quelle emotionaler Orgien. Darin ist er für mich unersetzlich." Noch viele andere interessante Themen fanden Eingang in die Gespräche: das Schachspiel, die Bedeutung von Freud und der Psychoanalyse auf die Entwicklung der Literatur, das Konkurrenzdenken unter Literaten, die heutige, oftmals rein mechanische Rezeption von Literatur durch einen Großteil der Leser. Hierzu noch ein kurzes Zitat Julien Gracqs: "Die Lektüre kann in gewissen Fällen eine beinahe mechanische Beschäftigung werden, etwa dem Aufsagen des Rosenkranzes vergleichbar. Indem man beinahe automatisch die Seiten umblättert, glaubt man, kulturelle Verdienste zu erwerben, trotz allem etwas aufzunehmen ..."

Wer sich gründlicher in die in diesem Band gesammelten Gespräche Julien Gracqs vertieft, der nimmt mit Sicherheit etwas auf. Denn es sind sowohl den Intellekt als auch das Gefühl anrührende Gespräche. Die Eleganz und ins Schwarze treffende Impulsivität des Ausdrucks überzeugt immer wieder bei Gracq. Seine Zeitgenossen haben ihm zwar den Lorbeerkranz der Berühmtheit vorenthalten, das bewahrte ihn und sein Werk jedoch davor, in den Verkaufsranglisten, den Annalen der Mediokrität, zu landen. Und Gracq ist und war auch nie ein Fanatiker des Erfolges, kein Anbeter des schnöden Mammons. Seinen im Literaturverlag Droschl erschienenen Gesprächen möchte ich aber, auch und gerade im Interesse der Leserinnen und Leser, eine möglichst weite Verbreitung wünschen.

(Werner Fletcher; 09/2007)


Julien Gracq: "Gespräche"
Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, 2007. 248 Seiten.
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Julien Gracq wurde am 27. Juli 1910 als Louis Poirier in Saint-Florent-le-Vieil geboren. Er starb am 22. Dezember 2007 im Alter von 97 Jahren in Angers.

Leseprobe:

Ich habe einmal geschrieben, dass ein großer Roman nicht das Leben ist, sondern ihm nur in der sehr wichtigen und sehr unvollständigen Weise ähnelt, in der eine Glocke einem Kessel gleicht. Das heißt, die gleichen äußeren Formen, das gleiche Aussehen, aber der eine wird ausschließlich für die praktischen Erfordernisse des Lebens genützt, die andere nur, um Musik von sich zu geben. Das bedingt, dass es in meiner Auffassung und im Gegensatz zu einer weit verbreiteten und zu billigen Vorstellung keinen beängstigenden Bruch zwischen der zweckgerichteten Banalität des gängigen Lebens und der "Welt der Kunst" gibt (die Dichter gelten dann oft als die, die sich - unter Schmerzen - von der ersten losreißen, um zur zweiten zu gelangen). Ich glaube nicht an die poetischen Hinterwelten, ich glaube nicht an das "Entfliehn! Nur fort! ..." von Mallarmé und auch nicht an diese Idee der Flucht aus dem Alltag durch die Kunst, die die französische Romantik durchzieht. Und die auch noch deutlich bei Baudelaire zum Ausdruck kommt. Ich stimme weitaus mehr mit der einheitlichen Konzeption überein, die, so scheint mir, Novalis vertritt: die Welt ist eins, alles ist in ihr; vom banalen Leben bis zu den Gipfeln der Kunst gibt es keinen Bruch, sondern eine magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der Aufmerksamkeit beruht, einer ganz anderen, ganz anders ausgerichteten und an Obertönen unendlich reicheren Art und Weise des Hörens und des Sehens. Weshalb die Literatur (ich möchte eher sagen: die Poesie) tatsächlich sehr ernst genommen werden muss, und zwar ohne die geringste Traurigkeit ernst genommen werden muss, wegen ihres immensen - und alltäglichen - Vermögens der Verwandlung und Bereicherung.

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