Nadine Gordimer: "Beute und andere Erzählungen"


Anspruchsvolle Erzählungen 

Die Erzählungen haben einen starken Bezug zu den Verhältnissen in Südafrika, zu der längst nicht vergessenen Apartheid, und zu Nadine Gordimer, die ein wenig ihrer selbst preisgibt. Auffallend viele bildhafte Beschreibungen, eingewoben in niveauvolle sprachliche Ausdrucksweisen, bieten Interpretationsspielräume, regen zum Nachdenken an. Erkennbar ist, neben der Konfrontation unterschiedlicher, nicht alltäglicher Perspektiven, ein gehöriges Maß an Melancholie. 

Bereits "Beute", die erste Erzählung des Buches, eine Parabel, fordert den Leser heraus. Ein Erdbeben legt den Meeresgrund frei und längst Versunkenes tritt ans Tageslicht. Zahlreiche Gegenstände aus der Vergangenheit tauchen auf. Jemand findet einen Spiegel. Rechnet Nadine Gordimer in dieser Geschichte mit der Apartheid ab? Steht der allmählich klarer werdende Spiegel für späte Einsichten, für eine späte Besinnung? Wirklich verstehen kann diese kurze Erzählung vermutlich nur, wer unter der Apartheid gelebt hat. 

In "Leitsätze" beleuchtet Nadine Gordimer eine ungewöhnliche Beziehung. Roberta Blayne, Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation, wird nach Südafrika versetzt. Sie geht ein Verhältnis mit einem schwarzen Regierungsmitarbeiter ein. Dieser will sich nicht etwa scheiden lassen, sondern Frau Blayne als Zweitfrau heiraten - ein Kulturschock. Hier prallen gegensätzliche Traditionen aufeinander und führen zu unvereinbaren Perspektiven. 

Wie verhalten sich erwachsene Kinder, wenn sich der Vater nach über vierzig Jahren Ehe von seiner Frau trennen will? Sie denken, dass er krank ist oder sich auf Irrwegen befindet. So normal es dem Nachwuchs auch erscheint, dass Heranwachsende nach Freiheit streben und sich vom Elternhaus loslösen, so wenig akzeptiert er das Streben nach Freiheit bei den eigenen Eltern. Existiert eine unbewusste Angst, die eigenen Wurzeln, den eigenen Konvergenzpunkt, zu verlieren? In "Die Generationslücke" behandelt Nadine Gordimer dieses sensible Thema. 

Die etablierte Gesellschaft, ihre Ordnung und ihre Werte werden auch in der Campusgeschichte "Doppelgänger" in Frage gestellt. Oder gibt es eine andere Deutung, wenn sich auf dem Campus Professoren und Landstreicher vermischen? Eines Tages sind die Landstreicher verschwunden - aber nur scheinbar. 

In der indischen Philosophie versteht man unter "Karma" die Gesamtheit aller guten und schlechten Taten, die zu einer Seele gehören. Hiermit verbunden ist der Glaube an Wiedergeburt. Wenn die Seele in einen neuen Körper wandert, ist sie vom vorigen Karma bestimmt. "Karma" heißt auch die letzte Erzählung in Gordimers Buch. Der Erzähler kehrt in verschiedenen Reinkarnationen auf die Erde zurück. Beeindruckend ist die Geschichte von Denise, die als weißes Kind unter schwarzen aufwächst und sich damit ihr Leben lang im Brennpunkt gesellschaftlicher Problemfelder bewegt. Als Satire auf das Leben erscheinen die metaphysischen gedanklichen Ausflüge des ungeborenen Zwillings Denis. 

In Nadine Gordimers ausdrucksstarken Erzählungen wird der einzelne Mensch in den Spannungsfeldern "Politik" und "Gesellschaft" intensiv beleuchtet. Es bestehen Interpretationsspielräume, mit denen sich der Leser auseinandersetzen muss. Das Thema "Tod" kommt auffallend oft vor - vielleicht im Gedenken an Nadine Gordimers vor zwei Jahren verstorbenen Ehemann. "Beute und andere Erzählungen" ist insgesamt ein eindringliches Buch, das den Leser fordert. 

Nadine Gordimer, 1923 in Johannesburg als Tochter jüdischer Eltern geboren, studierte Geisteswissenschaften. Bereits mit 15 Jahren publizierte sie ihre erste Erzählung. Sie hat sich intensiv mit der Apartheid auseinandergesetzt und gilt als politische Schriftstellerin. Ihre Bücher kamen immer wieder auf den Index der südafrikanischen Zensur. 1991 erhielt Nadine Gordimer den Nobelpreis für Literatur. Sie hat zahlreiche Kurzgeschichten geschrieben. Zu ihren Hauptwerken zählt der Roman "Die Hauswaffe".

(Klemens Taplan; 11/2003)


Nadine Gordimer starb im Juli 2014 in Südafrika.

Nadine Gordimer: "Beute und andere Erzählungen"
(Originaltitel "Loot, And Other Stories")
Deutsch von Barbara Schaden.
Berlin Verlag, 2003. 254 Seiten.
ISBN 3-8270-0006-8.
ca. EUR 19,90. Buch bestellen

Ergänzende Buchtipps:

"Livingstones Gefährten. Erzählungen"
Wir alle, so lehrt uns Nadine Gordimer mit ihren Erzählungen aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, sind Livingstones Gefährten, wir, die wir nach Afrika fahren, dort leben oder auch nur darüber lesen. Denn mehr als jeder andere Mensch hat Livingstone, der berühmte Missionar und Forschungsreisende, die Konfrontation zwischen Europa und Afrika zu verantworten - eine Konfrontation, die heute noch offen oder kaschiert fortgeführt wird.
Gordimers Geschichten kreisen vornehmlich um das Verhalten der privilegierten südafrikanischen Weißen, die sich zwar um Distanz zum System bemühen und gerne ihre liberale Einstellung zur Schau stellen - nach wie vor aber in "rassistischen" Denkschemata befangen bleiben. Vor allem in ihrer Kurzprosa erweist sich Nadine Gordimer als präzise Beobachterin kleiner menschlicher Dramen, deren Bezug zum politischen Hintergrund auf unaufdringliche Weise gegenwärtig bleibt; als Balancekünstlerin, die es fertig bringt, ihre Protagonisten, und zwar weiße wie schwarze, mit ironischem Abstand und gleichwohl mit Sympathie darzustellen.
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"Entzauberung"
"Entzauberung" ist der erste Roman, mit dem Nadine Gordimer - sie war damals 30 Jahre alt - ein für allemal die Bühne der Weltliteratur betrat. Thema des Romans sind die Probleme im südafrikanischen Spannungsfeld von Farbigen und Weißen. Die beklemmende Atmosphäre der Rassentrennung bildet den Hintergrund für die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mädchens aus der weißen Oberschicht einer kleinen südafrikanischen Kohlengrubenstadt. Vorgezeichnet ist ihr der Weg der "höheren Tochter", die die vielen hässlichen Dinge auf der Welt am besten übersieht. Doch Helen schaut nicht weg, sie entdeckt die andere Welt, in der die Schwarzen leben, und erfährt in einem schmerzlichen Prozess der "Entzauberung", an dessen Ende die Befreiung von der Lüge steht, die Unmenschlichkeit ihrer Wirklichkeit.
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"Die Umarmung eines Soldaten. Erzählungen"
Mit einer seltenen Sensibilität für jene alltäglichen Dinge, die tiefer als große Veränderungen unter die Haut gehen, hat Nadine Gordimer den Akzent ihres Schreibens auf die Widersprüchlichkeiten der "weißen Seele" im Südafrika der Rassentrennung gelegt: auf die Paradoxie, einer herrschenden Elite anzugehören und gleichzeitig an deren Brutalität zu leiden. So wurde sie nicht nur zur Chronistin des schwarzen Befreiungskampfes, sondern auch zur literarischen Erforscherin des psychischen Elends, das sich in den Villen der weißen Liberalen eingenistet hatte. Gerade in ihren Erzählungen erforscht sie in Standbildern von bewundernswerter Präzision die Selbstzweifel der progressiv eingestellten Intellektuellen, ihre etwas abgestandenen Existenzkrisen, ihre altmodische Libertinage, ihr Spießertum, ihre kleinen Fluchten in den Rausch oder ins politische Engagement - kurzum, ihre uneingestandenen Ängste um die eigene weiße Haut ...
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"Die Hauswaffe"
Das Geschehen ist unbegreiflich: Eine junger Weißer aus gutem Haus besucht seinen Freund, ergreift nach ein Paar Sätzen die "Hauswaffe", die in Johannesburg in fast jedem Haushalt zum Schutz gegen Einbrecher bereitliegt und erschießt ihn. Eltern und Freunde des jungen Mannes sind fassungslos, er selbst schweigt. War Eifersucht sein Motiv? Seine schöne Geliebte hatte ihn mit dem Freund betrogen. Oder offenbaren sich in der Tat Hintergründe, die tief in die Grundkonflikte der südafrikanischen Gesellschaft hineinreichen?
Nadine Gordimer, die seit Jahrzehnten mit ihrer Person und ihrem Werk für die Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß eintritt, beweist auch mit diesem Roman, dass sich literarische Qualität, Engagement und Spannung nicht ausschließen.
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"Spiel der Natur"

Hillela ist ein außergewöhnliches Mädchen, und sie wächst zu einer kraftvollen, innerlich freien Frau heran. Der Titel spielt zunächst einmal auf den Zufall der unterschiedlichen Hautfarben an, aber es ist sicher ebenso richtig, den Titel auf die Hauptgestalt zu beziehen. Hillela ist wie durch ein Spiel der Natur ganz frei vom Rassismus ihrer Umgebung; schon als Mädchen muss sie ein Internat in Rhodesien verlassen, weil sie sich mit einem farbigen Jungen anfreundet. Später heiratet sie einen schwarzen Widerstandskämpfer aus Südafrika. Der Roman ist der Versuch, eine Frauengestalt zu schildern, die alle Schranken des kolonialen Afrika - Schranken auf Seiten der Weißen ebenso wie auf Seiten der Schwarzen - hinter sich lässt. Nadine Gordimer hat in Hillela nicht nur eine überzeugende Frau von großer Wärme, Sinnlichkeit und Freiheit geschaffen, sondern auch einen Menschen, der in dieser afrikanischen Welt der Gegensätze seinen Platz findet.
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"Anlass zu lieben"
Jessie Stilwell ist eine eigenwillige Frau von etwa vierzig Jahren. Sie lebt mit ihrem Mann Tom, einem Universitätslehrer, und drei Kindern in einem geräumigen alten Haus in Johannesburg. Die beiden bewegen sich in liberalen, akademischen und künstlerischen Kreisen, die der Rassenfrage vorurteilslos gegenüberstehen. In dieses "offene" Haus kommen für einige Monate Boaz, ein Freund Toms, und seine junge lebenshungrige Frau Ann. Einer der Künstler, die zum Kreis um Tom und Jessie gehören, ist Gideon, ein bekannter Maler, dem vor Jahren ein italienisches Stipendium angeboten wurde, das er als politisch engagierter Schwarzer nicht annehmen durfte. Ann verliebt sich in Gideon, und eine Weile haben die beiden eine Affäre, in die nur Jessie eingeweiht ist. Bald geben die Liebenden sich keine Mühe mehr, ihre Beziehung geheim zu halten, aber je offener sie auftreten, desto deutlicher werden die Gegenkräfte der Apartheidgesellschaft, die Gefahren, die in einem rassistischen Staat einer Liebe zwischen Schwarz und Weiß drohen.
Die Geschichte dieser Liebe wird über weite Strecken des Romans durch die Augen Jessies gesehen. Ihre störrische Sensibilität, ihr absolutes Beharren auf dem Recht, frei und selbstbestimmt zu leben, geben dem Roman seinen Reichtum und seine Dichte.
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"Burgers Tochter"
Rosa mit vierzehn: Haushaltsvorstand, beide Eltern in politischer Haft. Rosa mit achtzehn: zum Schein die Verlobte eines politischen Gefangenen, mit dem es Kontakte aufrechtzuerhalten gilt. Rosa mit Anfang zwanzig: für die Herrschenden Tochter eines zu lebenslänglicher Haft verurteilten Sträflings, also ohne Reisepass; geistige Erbin eines Helden der Anti-Apartheid-Bewegung für die Anderen. Und nach all dem eine scheinbar endlich freie Rosa, die sich selbst nachspürt, in Südfrankreich, in London ... und dennoch heimkehrt.
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