Frank Goosen: "liegen lernen"
Der Bestseller, den Frank Goosen größtenteils in Dutzenden von miesen Hotelzimmern und Künstlerwohnungen sowie in völlig verspäteten Intercities verfasst hat, wurde unter der Regie von Hendrik Handloegten, u.a. mit Fabian Busch und Sophie Rois, verfilmt.
Frank
Goosen, 1966 irgendwo im Ruhrpott geboren, beschreibt hier, was es
heißt, von 1966 bis heute in Deutschland gelebt zu haben. Die
eine Hälfte der Kabarettgruppe "Tresenlesen" bringt hier eine
Menge Bühnenwitz zu Papier und spricht bei den Zeitgenossen
auch noch das Herz an - hoffentlich auch bei den Älteren und
Jüngeren.
Helmut ist der Held dieses Romans, soweit man bei dieser speziellen
Figur, die ihr Leben erzählt, überhaupt von einem
Helden reden kann. Er wurde in einer nicht näher benannten
Stadt im Ruhrgebiet geboren und erlebte eine vergleichsweise
unspektakuläre Kindheit, bis auf seine Freundschaft mit dem
aus kriminellen Verhältnissen stammenden Mücke und
seine kurze und heiße Beziehung mit der beeindruckenden
Britta, die in ihm das Interesse an politischer Betätigung -
und am weiblichen Geschlecht allgemein - weckt. Daneben spielt vor
allen Dingen Musik in seinem Leben eine große Rolle; Musik
auf Schallplatten und später auf CDs, die er genauso fanatisch
sammelt, wie dies schon sein Vater vorher tat.
Nach verschiedenen Kindheits- und
Jugenderlebnissen
verschlägt es Helmut in den akademischen Bereich, in dem er
zunächst mit dem lebenserfahrenen Beck zusammen trifft, der
ihm schnell zeigt,
wie
man gut voran kommt. Außerdem lernt Helmut das
Leben in einer WG kennen, und auch dabei macht er weitere Erfahrungen
mit dem weiblichen Geschlecht, die ihm aber die meiste Zeit wirklich
eher passieren, als dass er sich bewusst dazu entscheidet. Denn genau
das ist Helmuts größtes Problem im Leben, dass er
sich so schlecht für - oder gegen - etwas entscheiden kann,
weswegen das Leben ihm meistens eher zustößt, als
dass er es selbst aktiv gestaltet. Dabei hat er aber seltsamerweise
eher immer Glück, als dass er auf die Nase fällt -
was ihm allerdings gelegentlich auch passiert. Bis er
schließlich am Ende des Buchs doch vor eine Entscheidung
gestellt wird.
Helmuts Geschichte nimmt ihren Anfang im geteilten Deutschland, die
Musik kam vom Vinyl, im Fernsehen gab es drei Sender, wobei der dritte
immer etwas wetterabhängig war, Computer waren so
groß wie Häuser und hatten weniger Rechnerleistung
als ein moderner Toaster, und AIDS kannte man noch nicht einmal vom
Hörensagen. Dieser Roman zeichnet die Entwicklungen seit
damals bis nach der Wiedervereinigung fabelhaft nach und zeigt auch
ziemlich deutlich, wie höchstwahrscheinlich viele
Westdeutsche, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre
geboren wurden, die Wiedervereinigung zunächst wahrgenommen
haben. Und vieles Andere auch.
Helmut ist ein Typ von Mensch, wie man ihn in der beschriebenen
Generation oft treffen konnte und der heute merkt, dass sich viel
verändert hat, so dass man seinen Kindern manche Dinge gar
nicht glaubhaft erklären kann - nur drei Fernsehprogramme?
Telefone mit Wählscheiben?
Dies alles ist mit viel Liebe zum Detail und zu den Menschen
beschrieben. Die verwendete Sprache ist voller Witz und entspricht
dabei sicherlich dem Selbstverständnis vieler Menschen der
hier in den Mittelpunkt gestellten Generation.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 01/2005)
Frank Goosen: "liegen
lernen"
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Weitere
Bücher des Autors:
"Pokorny lacht"
Friedrich Pokorny hat das gnadenlose Talent zum Entertainer. Sein
Inneres ist durch einen Schutzwall aus Witzen gegen alle Zumutungen des
Lebens geschützt. Nahezu täglich steht er als
Entertainer auf der Bühne und verdient bei dem Kampf gegen
seine selbstgewählte Einsamkeit auch noch gutes Geld. Ein
Brief aus der Vergangenheit reißt die schützenden
Dämme ein. Thomas Zacher, Pokornys Freund aus Schul- und
Jugendjahren, ist wieder in der Stadt und lädt zum Abendessen
ein. Pokorny wird überschwemmt von schmerzhaften Erinnerungen,
die vor allem um Ellen kreisen. Sie war die große, die
einzige Liebe von Pokorny und Zacher, bis über den Tag hinaus,
an dem die beiden sie in den Tod trieben.
Frank Goosen gelingt es, in dieser intimen Geschichte hinter die glatte
Fassade einer Freundschaft
zu blicken, die, schwankend zwischen Rivalität und Treue, das
ganze Leben der beiden Freunde bestimmt. Mit genauem Gespür
für ernste und erheiternde Zwischentöne zeichnet
Frank Goosen wie nebenbei das Porträt eines Mannes, der sich
vor dem Ernst des Lebens in die Spaßgesellschaft
geflüchtet hat.
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"Mein Ich und sein Leben"
Beim Sex auf der Halde gezeugt, erlebt Frank Goosen eine Kindheit in
der orangenen Zeit der 1970er und eine
Jugend in der bleiernen Zeit der
Achtziger. Er erleidet die Nöte der Pubertät und die
Qualen zahlreicher Zweierbeziehungen, bis er schließlich ohne
Gegenwehr geheiratet wird um wiederum Glück und Glanz des
Vaterseins zu empfinden. In "Mein Ich und sein Leben" entgeht keine
Lebensphase des praktizierenden Komikers Frank Goosen der zugespitzten
und pointensicheren Beschreibung: die Erinnerungen an die Schulkumpels
Mücke und Pommes, an peinliche Liebesnächte und
betörend schlechte Lieblingsmusik; an den entsetzlichen
Dia-Abend mit aus dem Urlaub heimkehrenden Freunden oder an Eduard, der
auf Borkum Geschmack
an Mohnkuchen, einer jungen Bäckersfrau und einem
anderen Leben findet; an die Familienmythen um Onkel Hanno, der in
seinem Viertel die Stromversorgung just in dem Moment kappte, wo Rahn
hätte schießen müssen und an die
schlechtesten Hotels der Republik.
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Frank Goosen liest: "Radio Heimat. Geschichten von zuhause" zur Rezension ...
Leseprobe:
Im September 1998 stürzte ein Mann frühmorgens
vornüber aus einer im Souterrain gelegenen Kreuzberger Kneipe
in eine Pfütze brackigen Regenwassers und fühlte sich
nun bereit für einen abschließenden Döner.
Sein Leben als verantwortungsloses, bindungsunfähiges,
triebhaftes Arschloch war definitiv an einem Tiefpunkt angekommen.
Gegenüber war eine Plakatwand, auf der stand: "Wir werden
nicht alles anders, aber vieles besser machen!" Der Mann war knapp
über dreißig, ungewaschen und unrasiert und hatte
seit einigen Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Fast schien es, als
wolle er liegenbleiben, da in der Pfütze. Einfach
liegenbleiben, ging ihm durch den Kopf. Aber der große breite
Wirt mit der hohen Stimme und die fünf stummen Biker
würden sicher etwas dagegen haben. Und ob das
häßliche, magere Mädchen, das seit Stunden
im Schneidersitz in ein Mineralwasser hineinmeditiert hatte, sich
für ihn verwenden würde, war mehr als fraglich. Aus
der Kneipe kam chinesische Musik.
Der Mann schmeckte Regenwasser. Er fror. Aber das alles dauerte nur ein
paar Sekunden, dann stand der Mann auf und ging in die nächste
Telefonzelle. Man sah ihn telefonieren, den Kopf gegen den Apparat
gelehnt. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus. Er ging ein paar
Schritte und blieb vor einem türkischen Imbiß
stehen. Aus dem Döner würde nichts werden. Der Mann
hatte kein Geld mehr. Er konnte jetzt nur noch warten.
Dieser Mann, der mit leerem Magen, Kopfschmerzen und einem tauben
Gefühl in den Knochen vor diesem Imbiß stand, war
ich. Die ganze Geschichte hatte an dem Tag angefangen, als meine Eltern
sich einen Farbfernseher kauften.
Es hatte bis zum Spätsommer 1982 gedauert, bis mein Vater den
uralten Schwarzweißfernseher auf den Müll warf und
ein neues Gerät anschaffte. Wenn es nach ihm gegangen
wäre, hätte es nicht unbedingt ein Farbfernseher sein
müssen, wahrscheinlich war ihm ohnehin schon lange alles zu
bunt, aber der Händler hatte einfach keine
Schwarzweißgeräte da, und das war unser
Glück. Der Apparat wurde geliefert, als die großen
Ferien vorbei waren, aber das war Zufall.
Mein Vater tat immer so, als interessiere Fernsehen ihn nicht, aber
seine allabendliche "Tagesschau" ließ er sich nicht nehmen.
Filme, Serien und Reportagen schien er immer nur widerwillig zu sehen,
nach dem Motto: Na, wenn der Fernseher schon mal an ist,... Das hat er
nie gesagt, aber man sollte das von ihm denken.
Meine Mutter hat immer sehr gern ferngesehen. Wenn es nach ihr gegangen
wäre, hätten wir schon längst einen
"Buntfernseher" gehabt. Aber mein Vater meinte, dafür sei kein
Geld da. Meine Mutter schüttelte dann nur den Kopf und
seufzte. Sie mochte "Was bin ich?", und wenn Robert Lembke den Gong
schlug, machte sie die Augen zu, denn dann wurden die Berufe der Leute
eingeblendet, und sie machte die Augen erst wieder auf, wenn der Gong
zum zweiten Mal ertönte, und dann versuchte sie mitzuraten.
Ich glaube, meinem Vater ging das ziemlich auf die Nerven. Aber er
sagte nichts, sondern atmete nur ein paarmal hörbar aus oder
kratzte sich etwas zu oft am Fuß.
Meine Eltern hatten eine graue Sitzgarnitur. Meine Mutter saß
auf dem Zweisitzer und mein Vater in einem der beiden Sessel. Seine
Füße legte er auf den anderen Sessel, und der
Dreisitzer blieb meistens leer. Meistens zog sich mein Vater die Socken
aus, und dann sah man, daß er sich nicht so gern die
Fußnägel schnitt. Ich war begeistert, daß
wir endlich einen Farbfernseher hatten. Ich konnte mir ein Leben ohne
Fernsehen schon gar nicht mehr vorstellen, und vor allem konnte ich
mich an ein Leben ohne Fernseher gar nicht mehr erinnern. Der Fernseher
war immer dagewesen.