Max Goldt: "Der Zauber des seitlich dran Vorbeigehens"
Prosa und Szenen 2002 - 2004
Der Champ unter den
Sprachboxern
Max Goldt ist eine Klasse für sich. Auch wenn seine
Kurztextsammlungen an historische Vorbilder anklingen -
Peter Altenberg kommt
einem da in den Sinn - sind Themenwahl, Erzählhaltung und Sprachduktus einmalig
und von höchster Güte. Hier treten altertümliche gewundene Floskeln neben
neuesten Beispielen hirnloser Umgangssprache auf, hier wird einmal zart
angedeutet, dann wieder mit platter Offenheit ausgewalzt, hier werden
verschiedenste Erzählformen ausprobiert, das Banale neben das Bedeutsame, das
Persönliche neben das Politische gestellt, und all das unter feiner Berechnung.
Denn all das zielt zwar vordergründig auf Belustigung ab, auf das Mitschmunzeln
des Lesers. Darunter aber erfährt man sehr viel über die Welt und fühlt sich als
Außenseiter in ihr besser verstanden, sogar aufgehoben. Und all das macht jede
Menge Spaß.
"Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens" unterscheidet
sich von seinen unmittelbaren Vorgängern durch die gewachsene Stilvielfalt.
Goldt begann mit der Form der Zeitungskolumne, schlampig-geniale Essays, die
irgendwann einmal eben zum Ende kamen. Zwischendurch hatte man sich amüsiert.
Das neue Buch beginnt mit einer Geschichte in altgriechischer Dialogform; die
Wiedergabe eines Gesprächs, das in ein Gagfeuerwerk über die Namensetikettierung
von Herrenunterwäsche mündet. Danach geht es um Mutmaßungen, wie man das
englische Sprichwort "An
apple a day keeps the doctor away" am Besten ins
Deutsche übersetzen könnte. Als drittes die kurz vor den Festtagen in der
"Süddeutschen Tageszeitung" abgedruckte Titelgeschichte über Weihnachten, und
wie man dieses Fest eigentlich nur als Beobachter vorüberschlendernd ertragen
könne. Der Band beinhaltet den zickigen Dialog zwischen einem jungen
Radiomoderator und einer Krimiautorin, die mit Vornamen Petra heißt, wie nicht
nur die Zeitschrift, sondern einige erfolgreiche Krimiautorinnen, und einen
Dialog zwischen einem Moderator und einer Frau, die ein neues Sprichwort
erfunden hat.
Angeregt von einer Fernsehsendung, in der Hans-Olaf Henkel den Nobelpreisträger
Günter Grass,
als der Platitüden verbreitete, verachtungsvoll ansah, stimmt Goldt ein Loblied
auf die Verachtung an. Im Gegensatz zum Zorn oder Hass sei sie doch eine "wertvolle
und saubere Alternative", mit der man grottenschlechte Kunst auch einfach mal
ignorieren anstatt rezensieren könnte. Goldt reist nach Qatar, einem Land, das
in fast allen Sprachen der Welt "an einen Schnupfen erinnert" und liefert einen
Reisebericht, der zielsicher den Finger in die Wunden dieser erdölreichen Region
legt, darunter der ungehemmte Luxus. Sprachlich kann man die Ausstattung von
Luxushotels kaum kürzer und treffender zusammenfassen als Goldt: "Wer diese
Hotels nicht kennt, dem sei gesagt, dass der Geschmack reicher Araber ungefähr
jenem von betagten italienischen Blondinen in Pelzmänteln entspricht. Ausladende
barocke Reminiszenzen, die mit Lippenkonturstiften auf patschulibefeuchteter
Goldfolie entworfen zu werden scheinen." In Kanada findet er nur einen Kuchen
bemerkenswert, der "Fudge peanut butter clutter" heißt, und ein Semikolon in
der Beschreibung, wie sich dieser Kuchen zusammensetzt.
Das Buch ist keinem Genre zuordenbar. Fest steht aber,
dass es wenige Bücher gibt, die man so gerne und so schnell verschlingt, und das
ohne schlechtes Gewissen oder unerfreuliche Nebenwirkungen. Goldt unterhält
kurzweilig und bereichert, ohne aufdringlich zu werden. Er ist ein Meister der
pointierten Abschweifung und ein Weltentdecker, und übertrifft den derzeit
vielgelobten Wladimir
Kaminer - der ähnlich humoristisch schreibt und auch in Berlin und von
Lesungen lebt - um Längen. Max Goldt gehört zu den Autoren, bei denen ich danach
strebe, jede Zeile zu lesen, die sie veröffentlicht haben. Und dieses Buch
gehört zu dem Besten, das er geschrieben hat.
(Berndt Rieger; 01/2005)
Max Goldt: "Der Zauber des seitlich
dran Vorbeigehens"
Rowohlt, 2005. 192 Seiten.
ISBN
3-498-02497-3.
ca. EUR 18,40.
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Max Goldt wurde 1958 in Göttingen
geboren. Zuletzt veröffentlichte er "Mind-boggling", zwei wichtige
Best-of-Kollektionen und den hochgelobten "Krapfen auf dem Sims". Goldt, der
seit 1989 Kolumnen für "Titanic" schreibt, ist außerdem Musiker und verfasst
Hörspiele und Comics. 1997 wurde ihm der Kasseler Literaturpreis für grotesken
Humor verliehen, 1999 der Richard-Schönfeld-Preis für literarische Satire. Lien:
https://www.maxgoldt.de/
(Netzseite des Comicduos Katz & Goldt)
Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Ä"
Kolumnen.
Dieser Band vereint sämtliche
"Titanic"-Beiträge von Max Goldt aus den sogenannten "Hamburger Jahren" 1995 und
1996, darunter folgende Hits: Die Mitgeschleppten im Badezimmer; Die Leutchen
und die Mädchen; Besser als Halme: Blutmagen, grob (mit der beliebten Passage
"Über das
Fotografieren"); Veränderungen des Neigungswinkels von Hutablagen sind
keine Hausmädchenarbeit; Milch und Ohrfeigen; Zur Herzverpflanzung fährt man
nicht mit dem Bus. (Rowohlt)
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"Wenn man einen weißen Anzug
anhat"
Ein Tagebuch-Buch.
Dieses Buch ist, anders als sonst, nicht
eine Sammlung von Kolumnen oder Essays, Grotesken, Scherzi oder Betrachtungen,
sondern ein Tagebuch. Es beginnt im September 2001 und zieht sich noch ein
Weilchen ins Jahr 2002 hinein, wobei der Autor die Gelegenheit ergreift
(endlich!), über alles zu berichten, was sein Leben und seinen Alltag ausmacht:
Kommentarwichsmaschinen, Funken von Restanstand, Eugenie Marlitt, jene
talentvolle Autorin "zaghaft frauenemanzipatorischer Gesellschaftsromane des 19.
Jahrhunderts", aber auch Karlheinz Stockhausen, die
Dronte und die Mutter
Gottes sowie andere Merkwürdigkeiten und Schönheiten
am Rande
des Aussterbens. Das Zweikomponentenrezept zum Beispiel. Die Tauchsieder der
Familie Henscheid. Tassen und Kannen von Hedwig Bollhagen. Mit von der Partie
sind auch Tex Rubinowitz und sein legendäres Damenkloschwert, Stephan Katz und
Martin Z. Schröder, außerdem Jörg Haider, anlassbedingt, sowie eine rumänische
Prinzessin mit harten Haaren und viele mehr. Sie alle treiben durch den
verfließenden Nachmittag des Schriftstellers, und er hält fest, was er mit ihnen
erlebte, sprach und sah. Der Leser findet es in diesem Buch. (Rowohlt)
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"Für Nächte am offenen
Fenster"
Die prachtvollsten Texte 1988-2002.
Nicht nur Goldt-Neulinge
werden von der Textsammlung glücklich und frisch werden. Auch der Spezialist
wird manche unvorstellbar geschickt durchgeführte Kürzung und Verlängerung, ja
sogar komplette Rearrangements der besten Texte von "Die Radiotrinkerin" bis
"Wenn man einen weißen Anzug anhat" bestaunen dürfen. Alle wurden aufwändig und
liebevoll cheflektoriert (d.h. vom Verlagschef persönlich). (Rowohlt)
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