Matthieu Ricard: "Glück"
Emotionaler Gleichgewichtszustand versus Ego-Illusion
"Jeder Mensch will glücklich werden; um das Ziel aber zu
erreichen, müsste er zunächst wissen, was das Glück
eigentlich sei", meinte bereits der
französisch-schweizerischer Schriftsteller, Philosoph,
Pädagoge und Komponist
Jean-Jacques
Rousseau. Der buddhistische
Mönch und offizielle Französischübersetzer des
Dalai Lama - Matthieu Ricard - versucht sich an dieser "Begriffserklärung" in seinem Buch "Glück" und geht noch viel weiter.
Was ist Glück?
Für eben besagten Rousseau besteht Glück "aus einem hübschen Bankkonto, einer guten Köchin und einer tadellosen Verdauung."
Für andere wiederum ist es, eine Familie zu gründen, Kinder
zu bekommen oder einfach nur einen Sonnenuntergang am Meer zu
beobachten, vielleicht Spazierengehen unter dem Sternenhimmel.
Eine psychologische Definition von Glück bietet auch Sigmund
Freud,
indem er von einer Befriedigung des Luststrebens spricht, die jedoch
aufgrund der restriktiven kulturellen und gesellschaftlichen
Bedingungen zum Zweck kollektiver Selbsterhaltung nie erreicht werden
kann.
Jeder Mensch hat seine eigene Definition von Glück, denn jeder
empfindet Glück anders und bewertet es divergent. Unzählige
Ratgeber über und vom Glück sind auf dem Markt.
Nun hat sich dazu ein buddhistischer Mönch zu Wort gemeldet: Matthieu Ricard.
Bereits im Jahr 2000 errang er mit seinem Buch "Der Mönch und der
Philosoph" große Aufmerksamkeit. Matthieu Ricard hat vor
über fünfunddreißig Jahren seine vielversprechende
Karriere als Molekularbiologe, (er forschte am renommierten Institut
Pasteur unter dem
Medizin-Nobelpreisträger Francois Jakob), aufgegeben, um fortan
als buddhistischer Mönch zu leben und sich "entschlossen in Richtung derjenigen Dinge zu bewegen, die wirklich wichtig sind": Freiheit und Sinngebung - "Freiheit
von geistiger Verwirrung und den Problemen, die aus einer
selbstbezogenen Haltung resultieren, und um Sinngebung durch Einsicht
und Herzensgüte."
Aufgewachsen im Pariser Intellektuellenmilieu, (seine Mutter war eine
bekannte Malerin, sein Vater ein nicht minder bekannter Philosoph),
herrschte an faszinierenden Begegnungen kein Mangel. "Doch etwas Wesentliches fehlte einfach."
Er begab sich an den Fuß des Himalaya, nach Darjeeling, "um bei einem großen tibetischen Meister zu lernen" und letztendlich im Kloster Shechen in Nepal zu wirken.
Trotzdem stellt man sich die Frage: Weshalb
ein weiteres Buch über Glück? Gar ein Versuch der Missionierung? Denn Ricard ist Buddhist. Muss man noch so ein Buch lesen?
Man muss nicht, aber man kann und sollte es vielleicht sogar. Denn
zweifelsohne hat sich Matthieu Ricard sehr tiefgründig mit der
Materie beschäftigt. Eines kann vorweggenommen werden. Man hat es
hier auf keinen Fall mit einem Buch zu tun, das nur aus leeren
Worthülsen besteht.
Die vielen unterschiedlichen Definitionen von Glück waren für
Ricard Anlass, einen Versuch zu unternehmen, zu klären, worin
wirkliches Glück - einhergehend natürlich auch das Leid -
besteht und wodurch beides zustande kommt.
Dabei fährt der Autor nicht eingleisig. Er verknüpft seine
tiefe Vertrautheit der Weisheitsüberlieferungen des Buddhismus mit
der Welt der Wissenschaft und der Philosophie. Und das mit nahezu
spielerischer Leichtigkeit.
"Beide Strömungen gehen hier eine nahtlose Verbindung ein, und
die daraus entstehenden Erkenntnisse sind nicht nur inspirierend,
sondern zugleich von großem praktischem Wert", bemerkt Daniel Goleman, der berühmte us-amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist im Vorwort dieses Buches.
Ricard versucht nicht, eine allumfassende Definition des Wortes
Glück zu finden, sondern er elaboriert, dass wahres Glück
nicht auf ein paar angenehme oder intensive Empfindungen reduziert
werden kann. Denn die von den meisten Menschen spontan genannten
Glücksperzeptionen beziehen sich ausschließlich auf
Erlebnisse, die frei von inneren Konflikten waren. Oder sie gingen als
Reflexion von äußeren Umständen, als "unmittelbares Resultat bestimmter sinnlicher, ästhetischer oder intellektueller Reize" hervor.
Und dort muss - so Ricard - angesetzt werden. Denn wahres Glück
ist ein innerer Zustand, hat nichts mit der (unterschiedlichen)
Wahrnehmung der Wirklichkeit zu tun und ist auf keinen Fall die
bloße Jagd nach angenehmen Gefühlen oder gar "die Befriedigung des unerschöpflichen Verlangens nach äußeren Dingen."
Das Glück außerhalb von uns zu suchen gleicht dem Warten auf Sonnenschein in einer nach Norden gelegenen Höhle. (Tibetisches Sprichwort)
Gerade die Menschen der westlichen Welt - zusätzlich
verstärkt durch die unablässige Reizüberflutung durch
die Medien - sind zu stark auf die Außenwelt fixiert. "Wir schwelgen in der Vergangenheit oder spekulieren endlos über die Zukunft" und vergessen dabei den gegenwärtigen Moment zu genießen. Andere wiederum - und dazu zählt Ricard auch
Schopenhauer und Freud - betrachten Glück nur als eine "Unterbrechung von Schmerz und Entbehrung", als "ein Moment trügerischer Ruhe inmitten eines Sturmes."
Dem widerspricht der Autor vehement. Vorrangiges Ziel sollte es sein, "Unglücksursachen zu erkennen und zu beseitigen". Dabei genügt intellektuelles Verstehen allein nicht. "Wir werden nicht dadurch gesund, dass wir das Rezept des Hausarztes lediglich neben unser Bett legen oder es auswendig lernen."
Ricard empfiehlt als äußerst wirkungsvolles "Instrument"
eine seit Jahrhunderten erprobte, praktischen Methode des Buddhismus:
die Meditation - ein "Sich-vertraut-Machen mit einer neuen Lebensweise, einer neuen Art, da zu sein."
Dabei ist dieses Buch auf keinen Fall als Meditationsratgeber
anzusehen. Nur kleine Übungen zur behutsamen Einführung sind
jeweils am Ende einiger Kapitel eingeschoben. Für einen
tiefgreifenderen Einstieg sollte man sich auf jeden Fall in
professionelle Hände begeben. Aus der Fülle an Angeboten
aller möglichen Meditationszentren das optimale herauszufiltern,
sei dabei sicher nicht leicht. Daher überlegt Ricard, diesem Buch
eventuell ein weiteres - eine kleine Meditationsschule - folgen zu
lassen. Man darf gespannt sein.
Matthieu Ricard greift jedoch noch weitaus tiefer. Einen großen
Teil seines Buches widmet er den Emotionen und deren zum Teil
verstörenden, ja zerstörerischen Wirkungen, dem Leid und
dessen Ursachen oder aber dem "Schleier" des Egos - der Ichbezogenheit.
Zu sehr sind wir auf die eigene Perspektive fixiert. Der Glaube an ein
gefestigtes Selbst ist eines der hervorstechendsten Merkmale unserer
Zivilisation, erkennt Ricard. So wird aber nur ein künstliches
Selbstvertrauen aufgebaut, welches nur auf vordergründigen
Attributen wie Macht, Erfolg, Schönheit, der Meinung Anderer etc.
beruht. Aber gerade dieses Gefühl eigener Wichtigkeit ergibt eine
vortreffliche Zielscheibe für Angriffe jeder Art, sei es nun
Eifersucht, Angst, Gier oder Ablehnung.
"Um glücklich zu werden, müssen wir lernen uns zu ändern." (Luca und Francesco Cavalli-Sforza)
Ricard versucht, den Zusammenhängen auf den Grund zu gehen, von
denen maßgeblich abhängt, ob wir glücklich sind oder
leiden. Er vermittelt inspirierende Einblicke in die Funktionsweise des
Geistes
sowie des Gehirns. Dabei bedient er sich vieler führender
Kognitionswissenschaftler wie Paul Ekman oder Richard Davidson und
zieht Verbindungen zur Psychologie sowie deren jüngstem aber
durchaus erfolgversprechenden Gebiet der Positiven Psychologie. Ricard
berichtet von neuesten Forschungsergebnissen und den daraus gewonnen
Erkenntnissen.
Jene Auffassung von Glück, die Matthieu Ricard in diesem Buch in
großer Klarheit vor dem Leser ausbreitet, dürfte die
Alltagsvorstellungen von Freude bei manchem nach dieser Lektüre
ins Wanken bringen.
Ob für den Einzelnen in allem ein Gewinn liegen könnte, das
weiß man vielleicht nach 384 flüssig und unterhaltsam zu
lesenden, aber keineswegs oberflächlichen Seiten, spätestens
jedoch, wenn man sich mit diesem Mann, der von den
angelsächsischen Medien zum glücklichsten Menschen der Welt
erkoren wurde, auseinandergesetzt hat. Eine Patentlösung für
wahres Glück bietet Ricard jedoch nicht an, da die Schulung des
Geistes viel Mühe und Zeit kostet.
Er persönlich stellt fest: "Das Leben zu vereinfachen, um ihm
seine Quintessenz abzugewinnen - das war für mich mit Sicherheit
die lohnendste aller Unternehmungen. Und vereinfachen bedeutet nicht,
aufgeben zu müssen, was tatsächlich gut für uns ist,
sondern herauszufinden, was wirklich wichtig ist und uns dauerhaft
Erfüllung, Freude und Gelassenheit bringt."
Fazit:
Obwohl das Buch die Botschaft der weltlichen, wissenschaftlich
verstandenen Variante des Buddhismus beinhaltet, ist "Glück" von
Matthieu Ricard kein Buch für das 'Buddhismus'-Regal im
Buchhandel, "sondern
für das Herz und den Verstand eines jeden Menschen, der sich ein
bisschen mehr Lebensfreude wünscht und zugleich möchte, dass
in seinem Leben Weisheit und Mitgefühl den Ton angeben."
(Heike Geilen; 08/2007)
Matthieu Ricard: "Glück"
(Originaltitel "Plaidoyer pour le bonheur")
Hier leider übersetzt nach "Happiness. A guide to Developing Life's Most Important Skill"
von Christine Bendner.
Nymphenburger, 2007. 384 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors:
"Die Schneepagode. Ein Weisheitsmärchen"
Auf dem Dach der Welt, in Bhutan, lebt ein
besonderer Junge: Dechen. Er hat so viel Mitgefühl mit allen Wesen, dass es ihn
bald über sein kleines Dorf am Fuße des Himalaya hinaus berühmt macht. Eines
Tages wird er von einem Onkel, der Mönch in einem Felsenkloster ist, abgeholt
und in die Schneepagode gebracht. An diesem heiligen Ort der Buddhisten wirkt
ein großer Meister, der zu Dechens Lehrer wird und ihm den Weg der Erleuchtung
zeigt.
Ein Weisheitsmärchen, das ganz nebenbei eine kleine Einführung in den
Buddhismus ist - ein liebenswertes Geschenkbuch wie "Der kleine Prinz" und
"Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran". (Nymphenburger)
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Wolf Singer, Matthieu Ricard: "Hirnforschung und Meditation" zur Rezension ...