Daniel Glattauer: "Gut gegen Nordwind"


Virtuelles Liebesspiel im E-Mail-Dialog

Aber ich würde zum Beispiel schon gerne wissen, wie Sie aussehen. Es würde vieles erklären. Ich meine, es würde erklären, wieso Sie so schreiben, wie Sie schreiben. Weil Sie dann nämlich so aussehen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. Und ich würde verdammt gerne wissen, wie jemand aussieht, der so schreibt wie Sie. Das würde es dann erklären. (Seite 32 f.)

Leo Leike lernt Emmi Rothner kennen. Sie sind einander sympathisch und verlieben sich - aber sie wissen nicht, wie sie aussehen. Sie haben einander nie gesehen, nie geküsst. Sie kennen sich nur über E-Mails. Wissen Emmi und Leo eigentlich, ob sie ineinander verliebt sind? Oder lieben sie nur die E-Mails des jeweils Anderen? Oder lieben sie die gar nicht körperliche Person, die sie für den Schreiber der Liebesmails halten?

Zu Beginn der Liebesgeschichte erhält Leo verirrte E-Mails von Emmi, die nicht an Herrn Leike schreiben, sondern die Zeitschrift "Like" abbestellen wollte. Leo macht sie auf den Irrtum aufmerksam; sie entschuldigt sich, schickt Weihnachtsgrüße und überlegt sich dann gemeinsam mit ihrem E-Mail-Partner, wie man origineller "Frohe Weihnachten" wünschen könnte, als "Frohe Weihnachten" zu wünschen. Im Laufe von einigen Monaten und Hunderten ideenreichen, oft auch witzigen E-Mails wird aus dem harmlosen Geplänkel Sympathie, ein Flirt, eine erotische Beziehung und schließlich ein gieriges Verlangen nach mehr, als Computerbildschirme ermöglichen können. Mit der gesteigerten Sehnsucht sind dem liebestollen Vortasten bald mediale Grenzen gesetzt, die die beiden reichlich fantasievoll umgehen wollen, zum Beispiel bei einem arrangierten Treffen inmitten einer anonymen Menge, aber ohne sich zu erkennen zu geben, oder über eine leiblich-greifbare Stellvertreterin. So kommt es auch zu elektronischen Enttäuschungen und virtuellen Eifersuchtsszenen. Und immer wieder fragen sich die gewitzte Emmi und der spitzzüngige, eigentlich spitzfingrige Leo, ist es Liebe oder Täuschung, was sie aneinander bindet? Bis ihre Beziehung eines Tages, kurz vor der finalen Ent-Täuschung, eine unerwartete Wendung nimmt ...

Der Autor Daniel Glattauer, Wortakrobat der Tageszeitung Der Standard, gibt kommentarlos den E-Mail-Verkehr der beiden wieder, gleichsam als Briefroman des 21. Jahrhunderts. Nur die Zeit, die zwischen den E-Mails vergeht, ist angezeigt. Manchmal dauert es bloß zwanzig Sekunden, seltener einige Tage, bis die Antwort eintrifft. Diese Dynamik nützt der Autor für feine Pointen und einen nuancenreichen Wechsel zwischen einem raschen und schmähreichen Wortpingpong und längeren E-Mails, in denen die Liebenden - nicht weniger unterhaltsam - einander das Herz in den Posteingangsordner ausschütten. Bei allem Auf und Ab der elektronischen Liebe schafft es Glattauer geschickt, das Verlangen stetig zu steigern - sowohl das amouröse Verlangen der Liebenden wie auch das der amüsierten Leser.

Mit Esprit und im gekonnten Spiel mit den Fiktionen von Computerbenutzern ist es Daniel Glattauer gelungen, das Medium E-Mail witzig und zugleich humorvoll zu entzaubern und der virtuellen Liebe ein reales Lesevergnügen zu widmen.

(Wolfgang Moser; 09/2006)


Daniel Glattauer: "Gut gegen Nordwind"
Gebundene Ausgabe:
Deuticke. 223 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Goldmann, 2008.
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Weitere Bücher des Autors:

"Geschenkt"

Gerold Plassek ist Journalist bei einer Gratiszeitung. Bei ihm im Büro sitzt der vierzehnjährige Manuel, dessen Mutter im Ausland arbeitet. Er beobachtet Gerold beim Nichtstun und ahnt nicht, dass dieser Versager sein Vater ist. Gerold fehlt jeder Antrieb, die Stammkneipe ist sein Wohnzimmer und der Alkohol sein verlässlichster Freund. Plötzlich kommt Bewegung in sein Leben: Nach dem Erscheinen seines Artikels über eine überfüllte Obdachlosenschlafstätte trifft dort eine anonyme Geldspende ein. Das ist der Beginn einer Serie von Wohltaten, durch die Gerold immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Und langsam beginnt auch Manuel, ihn zu mögen ...
Ein so spannender wie anrührender Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht. (Deuticke)
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"Alle sieben Wellen"
Sie kennen Emmi Rothner und Leo Leike? Dann haben Sie also "Gut gegen Nordwind" gelesen, jene ungewöhnliche Liebesgeschichte, in der sich zwei Menschen, die einander nie gesehen haben, per E-Mail rettungslos verlieben.
Zweitens: Für Sie ist die Geschichte von Emmi und Leo und ihrer unerfüllten Liebe abgeschlossen. Mag sein. Aber nicht für Emmi und Leo!
Drittens: Sie sind der Ansicht, dass die Liebenden zumindest eine einzige wirkliche Begegnung verdient hätten und der Roman eine zweite Chance auf ein anderes Ende? Bitte, hier haben Sie es! Viertens: Sie haben keine Ahnung, wovon hier die Rede ist? Kein Problem. In diesem Buch erfahren Sie alles: von Leos Rückkehr aus Boston, von Emmis Eheproblemen und von der siebenten Welle, die immer für Überraschungen gut ist. (Goldmann)
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"Mama, jetzt nicht!"
In seinen Kolumnen aus dem Alltag, die über viele Jahre in der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" erschienen sind, würdigt Daniel Glattauer zeitgenössische kulinarische Phänomene (Knackwurst-Carpaccio) ebenso wie bislang in ihrer Bedeutung unterschätzte feierliche Anlässe (Weltverdauungstag), nimmt sich der berühmt-berüchtigten Leistungen der Fremdenverkehrsindustrie an (Tirol für Hartnäckige), beschreibt die Tücken des öffentlichen Privatlebens im Mobiltelefonzeitalter (Sonja macht Schluss), hängt traumatischen Erinnerungen an die Schulzeit nach (Langsam ans Abgeben denken!) und stellt sich den ganz großen Daseinsfragen (Es ist, wie es ist). Seine Themen findet Daniel Glattauer in seiner unmittelbaren Umgebung, sie sind dem Alltag entliehen, dem er sich mit Hingabe zu verschreiben versteht, und spannen einen weiten Bogen von 26 Fragen zur Wurst bis zu Sein und Zeit. Messerscharfe Beobachtungsgabe und feine Ironie machen Daniel Glattauer zum Meister der kleinen Form. "Mama, jetzt nicht!" ist eine Auswahl von Kolumnen, die es bisher noch nie in Buchform gab. (Zsolnay)
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Leseprobe:

Zwei Stunden später

AW:

Liebe Frau Rothner, schön, dass Sie mir schreiben, ich habe Sie schon vermisst. Ich war bereits knapp dran, mir ein Like-Abonnement zuzulegen. (Vorsicht, aufkeimender Humor!) Und Sie haben mich tatsächlich per "Google" gesucht? Das finde ich überaus schmeichelhaft. Dass ich für Sie ein "Professor" sein könnte, gefällt mir, ehrlich gestanden, eher weniger. Sie halten mich für einen alten Sack, stimmt’s? Steif, pedantisch, besserwisserisch. Nun, ich werde mich nicht krampfhaft bemühen, Ihnen das Gegenteil zu beweisen, sonst wird es peinlich. Vermutlich schreibe ich derzeit einfach älter, als ich bin. Und, mein Verdacht: Sie schreiben jünger, als Sie sind. Ich bin übrigens Kommunikationsberater und Uni-Assistent für Sprachpsychologie. Wir arbeiten gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und - der noch wesentlich interessantere Teil - über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen. Deshalb neige ich ein wenig zum Fachsimpeln, ich werde mich aber künftig zurückhalten, das verspreche ich Ihnen.

Dann überstehen Sie einmal die Faschingsfeierlichkeiten gut! Wie ich Sie einschätze, haben Sie sich bestimmt ein schönes Kontingent an Pappnasen und Tröten zugelegt. :-)

Alles Liebe, Leo Leike.



22 Minuten später

RE:

Lieber Herr Sprachpsychologe, jetzt teste ich Sie einmal: Was glauben Sie wohl, welcher Ihrer soeben erhaltenen Sätze für mich der interessanteste war, so interessant, dass ich Ihnen gleich eine Frage dazu stellen müsste (würde ich Sie nicht vorher testen)?

Und hier noch ein guter Tipp, Ihren Humor betreffend: Ihren Satz "Ich war bereits knapp dran, mir ein Like-Abonnement zuzulegen" habe ich als zur Hoffung Anlass gebend empfunden! Mit Ihrer Zusatzbemerkung "(Vorsicht, aufkeimender Humor)" haben Sie leider wieder alles verpatzt: Einfach weglassen! Und auch die Sache mit den Pappnasen und Tröten fand ich lustig. Wir haben offenbar den gleichen Nicht-Humor. Trauen Sie mir aber ruhig zu, Ihre Ironie zu erkennen und verzichten Sie auf den Smiley! Alles Liebe, ich find es echt angenehm, mit Ihnen zu plaudern. Emmi Rothner.



Zehn Minuten später

AW:

Liebe Emmi Rothner, danke für Ihre Humortipps. Sie werden am Ende noch einen lustigen Mann aus mir machen. Noch mehr danke ich für den Test! Er gibt mir Gelegenheit Ihnen zu zeigen, dass ich doch (noch) nicht der Typ "alter selbstherrlicher Professor" bin. Wäre ich es, dann hätte ich vermutet: Der interessanteste Satz müsste für Sie "Wir arbeiten gerade an einer Studie ... über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen" gewesen sein. So aber bin ich sicher. Am meisten interessiert Sie: "Und, mein Verdacht: Sie schreiben jünger als Sie sind." Daraus ergibt sich für Sie zwingend die Frage: Woran glaubt der das zu erkennen? Und in weiterer Folge: Für wie alt hält er mich eigentlich? Liege ich richtig?



Acht Minuten später

RE:

Leo Leike, Sie sind ja ein Teufelskerl!!! So, und jetzt lassen Sie sich gute Argumente einfallen, um mir zu erklären, warum ich älter sein müsste als ich schreibe. Oder noch präziser: Wie alt schreibe ich? Wie alt bin ich? Warum? - Wenn Sie diese Aufgaben gelöst haben, dann verraten Sie mir, welche Schuhgröße ich habe. Alles Liebe, Emmi. Macht echt Spaß mit Ihnen.



45 Minuten später

AW:

Sie schreiben wie 30. Aber Sie sind um die 40, sagen wir: 42. Woran ich es zu erkennen glaube? - Eine 30-Jährige liest nicht regelmäßig "Like". Das Durchschnittsalter einer "Like"-Abonnentin beträgt etwa 50 Jahre. Sie sind aber jünger, denn beruflich beschäftigen Sie sich mit Homepages, da könnten Sie also wieder 30 und sogar deutlich darunter sein. Allerdings schickt keine 30-Jährige eine Massenmail an Kunden, um ihnen "Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr" zu wünschen. Und schließlich: Sie heißen Emmi, also Emma. Ich kenne drei Emmas, alle sind älter als 40. Mit 30 heißt man nicht Emma. Emma heißt man erst wieder unter 20, aber unter 20 sind Sie nicht, sonst würden Sie Wörter wie "cool", "spacig", "geil", "elementar", "heavy" und Ähnliches verwenden. Außerdem würden Sie dann weder mit großen Anfangsbuchstaben noch in vollständigen Sätzen schreiben. Und überhaupt hätten Sie Besseres zu tun, als sich mit einem humorlosen vermeintlichen Professor zu unterhalten und dabei interessant zu finden, wie jung oder alt er Sie einschätzt. Noch was zu "Emmi": Heißt man nun Emma und schreibt man jünger als man ist, zum Beispiel weil man sich deutlich jünger fühlt, als man ist, nennt man sich nicht Emma, sondern Emmi. Fazit, liebe Emmi Rothner: Sie schreiben wie 30, Sie sind 42. Stimmt’s? Sie haben 36er Schuhgröße. Sie sind klein, zierlich und quirlig, haben kurze dunkle Haare. Und Sie sprudeln, wenn Sie reden. Stimmt’s? Guten Abend, Leo Leike.



Am nächsten Tag

Betreff: ???

Liebe Frau Rothner, sind Sie beleidigt? Schauen Sie, ich kenne Sie ja nicht. Wie soll ich wissen, wie alt Sie sind? Vielleicht sind Sie 20 oder 60. Vielleicht sind Sie 1,90 groß und 100 Kilo schwer. Vielleicht haben Sie 46er Schuhgröße - und deshalb nur drei Paar Schuhe, maßgefertigt. Um sich ein viertes Paar finanzieren zu können, mussten Sie Ihr "Like"-Abonnement kündigen und Ihre Homepagekunden mit Weihnachtsgrüßen bei Laune halten. Also bitte, seien Sie nicht böse. Mir hat die Einschätzung Spaß gemacht, ich habe ein schemenhaftes Bild von Ihnen vor mir, und das habe ich Ihnen in übertriebener Präzision mitzuteilen versucht. Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Liebe Grüße, Leo Leike.



Zwei Stunden später

RE:

Lieber "Professor", ich mag Ihren Humor, er ist nur einen Halbton von der chronischen Ernsthaftigkeit entfernt und klingt deshalb besonders schräg!! Ich melde mich morgen. Ich freu mich schon! Emmi.



Sieben Minuten später

AW:

Danke! Jetzt kann ich beruhigt schlafen gehen. Leo.



Am nächsten Tag

Betreff: Nahe treten

Lieber Leo, den "Leike" lasse ich jetzt weg. Sie dürfen dafür die "Rothner" vergessen. Ich habe Ihre gestrigen Mails sehr genossen, ich habe sie mehrmals gelesen. Ich möchte Ihnen ein Kompliment machen. Ich finde es spannend, dass Sie sich so auf einen Menschen einlassen können, den Sie gar nicht kennen, den Sie noch nie gesehen haben und wahrscheinlich auch niemals sehen werden, von dem Sie auch sonst nichts zu erwarten haben, wo Sie gar nicht wissen können, ob da jemals irgend etwas Adäquates zurückkommt. Das ist ganz atypisch männlich, und das schätze ich an Ihnen. Das wollte ich Ihnen vorweg nur einmal gesagt haben. So, und jetzt zu ein paar Punkten:

1.) Sie haben einen ausgewachsenen Massenmail-Weihnachtsgruß-Psycho! Wo haben Sie den aufgerissen? Anscheinend kränkt man Sie zu Tode, wenn man "Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr" sagt. Gut, ich verspreche Ihnen, ich werde es nie, nie wieder sagen! Übrigens finde ich es erstaunlich, dass Sie von "Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr" auf ein Lebensalter schließen können wollen. Hätte ich "Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr" gesagt, wäre ich dann zehn Jahre jünger gewesen?

2.) Tut mir Leid, lieber Leo Sprachpsychologe, aber dass eine Frau nicht jünger als 20 Jahre sein kann, wenn sie nicht "cool", "geil" und "heavy" verwendet, kommt mir schon ein bisschen weltfremd oberprofessorenhaft vor. Nicht, dass ich hier darum kämpfe, so zu schreiben, dass Sie meinen könnten, ich sei jünger als 20 Jahre. Aber weiß man es wirklich?

3.) Ich schreibe also wie 30, sagen Sie. Eine 30-Jährige liest aber nicht "Like", sagen Sie. Dazu erkläre ich Ihnen gerne: Die Zeitschrift "Like" hatte ich für meine Mutter abonniert. Was sagen Sie jetzt? Bin ich nun endlich jünger, als ich schreibe?

4.) Mit dieser Grundsatzfrage muss ich Sie alleine lassen. Ich habe leider einen Termin. (Firmunterricht? Tanzschule? Nagelstudio? Teekränzchen? Suchen Sie es sich ruhig aus.)

Schönen Tag noch, Leo! Emmi.



Drei Minuten später

RE:

Ach ja, Leo, eines will ich Ihnen doch noch verraten: Bei der Schuhgröße waren Sie gar nicht so schlecht. Ich trage 37. (Aber Sie brauchen mir keine Schuhe zu schenken, ich habe schon alle.)



Drei Tage später

Betreff: Etwas fehlt

Lieber Leo, wenn Sie mir drei Tage nicht schreiben, empfinde ich zweierlei: 1.) Es wundert mich. 2.) Es fehlt mir etwas. Beides ist nicht angenehm. Tun Sie was dagegen! Emmi



Am nächsten Tag

Betreff: Endlich gesendet!

Liebe Emmi, zu meiner Verteidigung gebe ich an: Ich habe Ihnen täglich geschrieben, ich habe die E-Mails nur nicht abgeschickt, nein, im Gegenteil, ich habe sie allesamt wieder gelöscht. Ich bin in unserem Dialog nämlich an einem heiklen Punkt angelangt. Sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, beginnt mich schön langsam mehr zu interessieren, als es dem Rahmen, in dem ich mich mit ihr unterhalte, entspricht. Und wenn sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, von vornherein feststellt: "Wahrscheinlich werden wir uns niemals sehen", dann hat sie natürlich völlig Recht und ich teile ihre Ansicht. Ich halte das für sehr, sehr klug, dass wir davon ausgehen, dass es zu keiner Begegnung zwischen uns kommen wird. Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt.

So, und diese E-Mail schicke ich nun endlich weg, damit sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, wenigstens irgendwas von mir in der Mailbox hat. (Aufregend ist der Text nicht, ich weiß, es ist auch nur ein Bruchteil von dem, was ich Ihnen schreiben wollte.) Alles Liebe, Leo.



23 Minuten später

RE:

Aha, dieser gewisse Leo Sprachpsychologe will also nicht wissen, wie diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37 aussieht? Leo, das glaube ich Ihnen nicht! Jeder Mann will wissen, wie jede Frau aussieht, mit der er spricht, ohne zu wissen, wie sie aussieht. Er will sogar möglichst schnell wissen, wie sie aussieht. Denn danach weiß er, ob er noch weiter mit ihr sprechen will oder nicht. Oder etwa nicht? Herzlichst, die gewisse 37er-Emmi.



Acht Minuten später

AW:

Das war jetzt mehr hyperventiliert als geschrieben, stimmt’s? Ich muss gar nicht wissen, wie Sie aussehen, wenn Sie mir solche Antworten geben, Emmi. Ich habe Sie ohnehin vor mir. Und dafür muss ich mich nicht einmal mit Sprachpsychologie beschäftigt haben. Leo.



21 Minuten später

RE:

Sie irren, Herr Leo. Das war völlig ruhig geschrieben. Sie sollten mich einmal sehen, wenn ich tatsächlich hyperventiliere. Im Übrigen neigen Sie prinzipiell eher nicht dazu, meine Fragen zu beantworten, stimmt’s? (Wie sehen Sie eigentlich aus, wenn Sie "Stimmt’s?" fragen?) Aber darf ich noch einmal auf Ihren E-Mail-Wurf von heute Vormittag zurückkommen. Da passt so gar nichts zusammen. Ich halte fest:

1.) Sie schreiben mir E-Mails und schicken sie nicht ab.

2.) Sie beginnen sich schön langsam mehr für mich zu interessieren, als es dem "Rahmen unserer Unterhaltung" entspricht. Was soll das heißen? Ist der Rahmen unserer Unterhaltung nicht ausschließlich das gegenseitige Interesse an einer jeweils völlig fremden Person?

3.) Sie finden es sehr klug - nein, Sie finden es sogar "sehr, sehr klug", dass wir uns nie treffen werden. Ich beneide Sie um Ihre leidenschaftliche Hinwendung an die Klugheit!

4.) Sie wollen kein Chatroom-Geplänkel. Sondern? Worüber wollen wir uns unterhalten, damit Sie sich nicht schön langsam mehr für mich interessieren, als es dem "Rahmen" entspricht?

5.) Und, für den gar nicht unwahrscheinlichen Fall, dass Sie keine meiner soeben gestellten Fragen beantworten werden: Sie sagten, dass das vorhin nur ein Bruchteil von dem war, was Sie mir schreiben wollten. Schreiben Sie mir ruhig den Rest. Ich freue mich über jede Zeile! Ich lese Sie nämlich gerne, lieber Leo. Emmi.



Fünf Minuten später

AW:

Liebe Emmi, Wenn Sie nicht 1.) 2.) 3.) und so weiter schreiben können, sind Sie es nicht, stimmt’s? Morgen mehr. Schönen Abend. Leo.



Am nächsten Tag

Kein Betreff

Liebe Emmi, ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir absolut nichts voneinander wissen? Wir erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. Wir stellen Fragen, deren Reiz darin besteht, nicht beantwortet zu werden. Ja, wir machen uns einen Sport daraus, die Neugierde des anderen zu wecken und immer weiter zu schüren, indem wir sie kategorisch nicht befriedigen. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Wörtern, bald wohl schon zwischen den Buchstaben. Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten. Was heißt "nichts Wesentliches"? - Gar nichts, wir haben noch nichts aus unserem Leben erzählt, nichts, was den Alltag ausmacht, was einem von uns wichtig sein könnte.

Wir kommunizieren im luftleeren Raum. Wir haben artig gestanden, welcher beruflichen Tätigkeit wir nachgehen. Sie würden mir theoretisch eine schöne Homepage gestalten, ich erstelle Ihnen dafür praktisch (schlechte) Sprachpsychogramme. Das ist alles. Wir wissen aufgrund eines miesen Stadtmagazins, dass wir in der gleichen Großstadt leben. Aber sonst? Nichts. Es gibt keine anderen Menschen um uns. Wir wohnen nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter. Wir unterscheiden nicht zwischen Tag und Nacht. Wir leben in keiner Zeit. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme, jeder streng und geheim für sich, und wir haben ein gemeinsames Hobby: Wir interessieren uns für eine jeweils völlig fremde Person. Bravo!

Was mich betrifft, und jetzt komme ich zu meinem Geständnis: Ich interessiere mich wahnsinnig für Sie, liebe Emmi! Ich weiß zwar nicht warum, aber ich weiß, dass es einen markanten Anlass dafür gegeben hat. Ich weiß aber auch, wie absurd dieses Interesse ist. Es würde einer Begegnung niemals standhalten, egal wie Sie aussehen, wie alt Sie sind, wie viel Sie von Ihrem beträchtlichen E-Mail-Charme zu einem allfälligen Treffen mitnehmen könnten und was von Ihrem geschriebenen Sprachwitz auch in Ihren Stimmbändern steckt, in Ihren Pupillen, in Ihren Mundwinkeln und Nasenflügeln. Dieses "Wahnsinnsinteresse", so mein Verdacht, nährt sich einzig und allein aus der Mailbox. Jeder Versuch, es von dort heraustreten zu lassen, würde vermutlich kläglich scheitern.

Nun meine Schlüsselfrage, liebe Emmi: Wollen Sie noch immer, dass ich Ihnen Mails schreibe? (Diesmal wäre eine klare Antwort äußerst entgegenkommend.) Alles, alles Liebe, Leo.



21 Minuten später

RE:

Lieber Leo, das war aber viel auf einmal! Sie müssen ordentlich Tagesfreizeit haben. Oder zählt das als Arbeit? Kriegen Sie dafür Zeitausgleich? Können Sie es von der Steuer absetzen? Ich weiß, ich habe eine spitze Zunge. Aber nur schriftlich. Und nur, wenn ich unsicher bin. Leo, Sie machen mich unsicher. Sicher ist nur eines: Ja, ich will, dass Sie mir weiter E-Mails schreiben, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Wenn das noch nicht klar genug war, dann probiere ich es noch einmal: JA, ICH WILL!!!!!!! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO. BITTE! ICH BIN SÜCHTIG NACH E-MAILS VON LEO!

Und jetzt müssen Sie mir unbedingt verraten, warum es bei Ihnen zwar keinen Grund, aber einen "markanten Anlass" dafür gegeben hat, sich für mich zu interessieren. Das verstehe ich nämlich nicht, aber es klingt spannend. Alles, alles Liebe und noch ein "Alles" dazu, Emmi. (PS: Die E-Mail da oben von Ihnen war klasse! Absolut humorlos, aber echt klasse!)

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