Charlotte Perkins Gilman: "Die gelbe Tapete"

Erzählung


Eine, wie sie selbst von sich behauptet, nervlich angespannte, Frau mietet sich gemeinsam mit ihrem Mann John für drei Wochen in einer Villa aus der Kolonialzeit ein. Von Anfang an zweifelt sie daran, dass ihr das Haus gut tun könne. John, der Arzt ist, rät ihr, hier jene Erholung zu finden, welche ihre Situation verbessern könne. Weder für ihn noch für Berufskollegen ist seine Frau als krank zu bezeichnen. Sie weiß aber, dass sie psychisch nicht im Gleichgewicht ist. Wie sie in diesen Zustand hineingeraten ist, der nunmehr schon längere Zeit anhält und dazu führt, dass sie sich kaum dazu aufraffen kann, die einfachsten Tätigkeiten durchzuführen, erfährt der Leser nicht. Jedenfalls ist sie von Tag zu Tag mehr davon überzeugt, dass eine gelbe Tapete in ihrer Schrecklichkeit eine magische Anziehung auf sie ausübt. Sie kann gar nicht davon lassen, diese Tapete zu begutachten. Jede Winzigkeit, jedes Detail, wird von ihr erkannt und beschrieben. Die Muster der Tapete ändern sich je nach Lichteinfall. Einmal sind es Gitterstrukturen, ein andermal seltsame Schatten. Die Frau sieht eine Frau, die hinter den Gittern steht und daran rüttelt. Zudem kriecht diese Frau immer wieder im Garten herum. Für die Protagonistin sind es zwei Persönlichkeiten, welche sich gegenseitig beobachten. Die gespaltene Persönlichkeit der Frau reflektiert sich von zwei Perspektiven ausgehend. Zum Einen ist sie Beobachterin der krankhaften Zustände der kriechenden Frau und definiert die Eigenartigkeit dieses Wesens; zum Anderen schreibt sie jenen Bericht, den wir nachlesen können.

Sie ist krank und weiß darüber Bescheid. Doch ihr Mann ist anderer Meinung. Er ist davon überzeugt, dass es sich um ein vorübergehendes "Phänomen" handelt. Es reiche schon, wenn sie ein wenig rohes Fleisch und sonstige merkwürdige Substanzen zu sich nähme, um ihren Geist zu stärken. Die Frau, welche offenbar erst vor kurzem ein Kind geboren hat, reißt schließlich die gelbe Tapete meterweise von den Wänden und kehrt dann mit ihrem Mann in das "alte" Leben zurück.

Es ist eine Geschichte einer Verstörung, die erzählt wird. Eine Frau ist nervlich so zerrüttet, dass sie sich selbst nicht mehr in der Hand hat. Sie schreibt ihre Beobachtungen auf, um nicht total verrückt zu werden. Sie macht sich zum Ziel, in den drei Wochen der Tapete zu Leibe zu rücken. Das Haus, in dem sie einzusitzen gezwungen ist, ist ihr natürlicher Feind. Ihr Mann ist nett, aber in seinem Urteil unbeugsam. Er spricht davon, dass sie sich unter Kontrolle bringen solle. Es liege an ihr allein, ob ihr Zustand dauerhaft bliebe oder nicht. Dieser "Rat" erweist sich freilich als untauglich. Ihre Situation wird immer beschwerlicher, bis sie der Tapete überdrüssig geworden ist und ihr Mann vor ihr in Ohnmacht fällt, weil er der Zerstörungsaktion ansichtig wird. Nunmehr liegt er mitten vor den Gittern, und sie wird immer über ihn hinwegkriechen müssen.

Die Autorin sagte in einem Interview viele Jahre nach der Entstehung dieser Erzählung, dass sie über persönliche Erfahrungen geschrieben habe. Sie litt an einer dauerhaften Nervenschwäche und konsultierte schließlich einen Nervenarzt, der sie mit den üblichen Methoden behandelte. Er steckte sie ins Bett und gab ihr Ratschläge wie "Beschäftigen Sie sich mit intellektuellen Dingen nicht länger als zwei Stunden pro Tag." Das führte keineswegs zu einer Besserung der Lage. Frau Gilman half sich selbst, indem sie wieder zu arbeiten begann, und durch "Arbeit, die Freude, Wachstum und Dienstleistung, ohne die man ein Almosenempfänger und Schmarotzer ist", gewann sie an Kraft und wurde schließlich wieder gesund. Arbeit als Mittel zur geistigen Gesundheit? Als sie sich wieder besser fühlte, schrieb sie Die gelbe Tapete.

Die Erzählung ist wunderbar flüssig geschrieben und fesselt von der ersten Sekunde an. Eine nervliche Zerrüttung führt zu schizophrenen Charakterzügen und verändert das Wesen der Frau nachhaltig. Die Autorin behauptete auch, sie habe eine Frau vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt, indem es dieser ermöglicht wurde, wieder ihrer gewohnten Beschäftigung nachzugehen. Auf diese Weise soll sie wieder gesund geworden sein.

Eine psychische Gleichgewichtsstörung, eine nervliche Zerrüttung, eine schizophrene Persönlichkeitsstruktur: So schnell können diese schwerwiegenden, belastenden Zustände nicht bekämpft werden. Es ist reichlich absurd, zu glauben, die Wiederaufnahme einer "Arbeit" oder gewohnter Tätigkeiten wäre schon genug, um diesen Psychopathologien entgegen zu treten. Die Erzählung von der gelben Tapete ist ungemein spannend und in sich geschlossen. Es werden darin auch keineswegs Auswege geschildert, durch die jene Krankheit eine Besserung erfahren könne. Vielmehr wirken die "Tipps" des Mannes, der als Arzt offenbar total ahnungslos ist, was diese Form der geistigen Zerrüttung betrifft, fehl am Platz und wie ein blamabler Witz. Wie die Autorin ihre Geschichte viele Jahre später interpretiert haben mag, und welche "Behandlungsmethoden" sie für richtig empfand, sollte für den Leser zweitrangig sein.

Die Autorin, übrigens Großnichte der Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe (Onkel Toms Hütte), wurde 1860 in Hartford, Connecticut geboren. Nach der Geburt ihrer Tochter im Jahre 1880 bekam sie Depressionen und wurde von einem Neurologen ab 1886 behandelt. Im Jahre 1892 erfolgte mit der Veröffentlichung von The Yellow Wallpaper ihr literarischer Durchbruch. Sie gab später die Zeitschrift Pacific Womens Association "The impress" (gemeinsam mit Helen Campbell) heraus. 1909 gründete sie die Zeitschrift "The Forerunner", die bis ins Jahr 1916 Bestand hatte, und für die sie fast alle Beiträge selbst schrieb. Am 17.8.1935 wählte Charlotte Perkins Gilman den Freitod durch Inhalieren von Chloroform.

(Jürgen Heimlich; 09/2005)


Charlotte Perkins Gilman: "Die gelbe Tapete"
(Originaltitel "The Yellow Wallpaper")
Aus dem amerikanischen Englisch von Alfred Goubran.
edition selene, 2005. 80 Seiten.
ISBN 3-85266-270-2.
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