Francesca Pellegrino: "Geografie und imaginäre Welten"

Bildlexikon der Kunst, Band 18


Das geheimnisvolle Fremde als Element in der Kunst

Das Fremde, Ungewohnte, ob es uns nun anziehend oder abstoßend erscheint, hat die Menschen schon immer fasziniert. Die meisten bestaunen es aus sicherer Entfernung; Entdecker und Wissenschaftler befassen sich unmittelbar damit. Dasselbe gilt für die Künstler, die ohnehin in mehr als einem Wortsinn dazu tendieren, Grenzen zu überschreiten.

Der 18. Band des Bildlexikons der Kunst aus dem Parthas Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, in der Kunst anzutreffende Darstellungen fremder Welten, ob real oder erdacht, vorzustellen, zu erläutern und zu interpretieren.

Im ersten Kapitel geht es um "Erdball und Himmelssphäre", die besonders in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle einnehmen, entweder als eigentliches Motiv oder als symbolhaftes Element in Allegorien. Zu den im Buch betrachteten Beispielen gehören Vermeers "Astronom" und "Geograf", Tintorettos "Die Entstehung der Milchstraße" und mancherlei Karten, aber auch Nachtszenen, darunter "Kirchenräuber werden von Toten überfallen" von Alessandro Magnasco.

Das zweite Kapitel befasst sich mit Abbildungen der Kontinente und ihrer zumeist bewusst exotisch dargestellten Bewohner. Auch die hier vorgestellten Kunstwerke sind innerhalb des vorgegebenen Themas höchst unterschiedlich, so findet man Gegenüberstellungen der Kontinente, in denen Europas lange Zeit dominierende Rolle deutlich zur Geltung kommt, Mythen wie den Raub der Europa und Darstellungen von Menschen anderer Kultur und Hautfarbe, zum Beispiel Schwarze, Juden, Sinti, Roma und Orientalen. Hier zeigen sich über Jahrhunderte fest verwurzelte Vorurteile besonders deutlich: Diskriminierungen und Pauschalisierungen sowie Überzeichnung gewisser äußerlicher Merkmale sind geradezu die Regel.

Wenn in älteren Bildern exotische Tiere und Fabelwesen als Motive dienen, so muss der moderne Betrachter sich gelegentlich ein Schmunzeln verkneifen angesichts grotesker Darstellungen von dem Maler nicht durch Anschauung bekannten Tieren. Sofern diese Tiere und monströsen mythischen Geschöpfe nicht als Symbole dienen oder Teil einer Allegorie sind, spiegeln sie ganz besonders das oben erwähnte Wechselspiel aus Anziehung und Abstoßung durch Fremdes wider.

Dem Kapitel über solche Wesen folgt ein Abschnitt über Reisen, die in der Neuzeit rasant an Bedeutung gewannen. Illustrationen zu Pilgerfahrten findet man in der Literatur des Mittelalters häufig, und im 19. Jahrhundert waren berühmte Reisende wie Kolumbus oder Marco Polo beliebte Motive. Auch die Eroberung fremder Länder und Kontinente wurde gern in Bildern verarbeitet. Zudem werden im Buch mythische Reisen betrachtet wie jene des Odysseus oder der Argonauten sowie Reisen an besonders schöne oder aber extrem unwirtliche Orte.

Das abschließende Kapitel über fantastische Orte befasst sich mit rein mythischen oder mystischen Orten, beispielhaft seien Atlantis, sagenhaft verklärte Orientbilder sowie Fegefeuer und Inferno genannt.

Die Kapitel weisen eine Untergliederung in zahlreiche Einzelthemen auf, die häufig anhand eines typischen Beispiels betrachtet werden; seltener findet man mehrere Bilder, Skulpturen oder andere Kunstwerke, die sich mit demselben Thema befassen.

Jedes Thema wird in einem zusammenfassenden Text umrissen; Ergänzungen hierzu finden sich in der Randspalte. Im Zentrum der Betrachtungen stehen die Abbildungen der repräsentativen Kunstwerke, die im jeweiligen Kontext recht detailliert besprochen werden. Von den Erläuterungen führen Linien zu den entsprechenden Elementen in der Abbildung, sodass der Leser sich nicht damit aufhalten muss, nach kleinen versteckten Motiven im Bild zu suchen. Das wäre auch mühsam, weil die Bilder zwar einen guten Teil der Seiten ausfüllen, das Format des Lexikons jedoch handlich und somit nicht allzu groß ist. Der Druck der Abbildungen freilich hat Bildbandqualität.

Bemerkenswert ist die Fülle der angebotenen Informationen. Diese beschränken sich nicht auf die konkret vorgestellten Kunstwerke: Häufig findet man Verweise zu anderen bekannten Werken, die sich mit der jeweiligen Thematik befassen, ob unter derselben oder einer anderen Prämisse. Die Inhalte werden zwar knapp, doch für Laien sehr gut verständlich präsentiert. Trotz des enormen Umfangs an vermitteltem Wissen wirkt das Buch sehr übersichtlich und lässt sich deshalb, auch dank der Register, vorzüglich als Nachschlagewerk verwenden; ebenso allerdings als informative, recht kompakte Lektüre für Kunst- und Kulturinteressierte.

Auf interessante Weise vermag der Lexikonband aufzuzeigen, wie das Fremde, ob real existierend oder erdacht, im Lauf der Jahrhunderte seinen Platz in der Kunst fand: faszinierend, verstörend, grotesk, rätselhaft, lächerlich, idealisierend schön, Ekel erregend, ganz nach dem Geschmack und der vorherrschenden Meinung der jeweiligen Epoche, vereinzelt auch des jeweiligen Künstlers. Mancher Leser wird nach der Lektüre nicht nur die Exponate in Museen mit anderen Augen betrachten, sondern zudem die eigene Rezeption von Neuem und Exotischem hinterfragen.

(Regina Károlyi; 12/2007)


Francesca Pellegrino: "Geografie und imaginäre Welten"
Parthas Verlag, 2007. ca. 384 Seiten.
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