Wilhelm Genazino: "Ein Regenschirm für diesen Tag"
"Im
Prinzip lebe ich nur noch vormittags, wenn ich umhergehe und dabei ein
wenig Geld verdiene, was in den kommenden Tagen wieder geschehen wird.
Nachmittags findet eine Art Zerbröckelung meiner Person statt,
gegen die ich wehrlos bin, eine Zerfaserung oder Ausfransung. Ich
vergesse dann, dass es im Leben Hauptsachen und Nebensachen gibt, weil
irgendeine Nebensache in mich eindringt und mich nicht mehr freigibt."
Beobachtungen im Alltag eines Lebenskünstlers
Kann man seinen Lebensunterhalt mit dem Probelaufen von
Luxushalbschuhen bestreiten? Der Protagonist in Wilhelm Genazinos Roman
"Ein Regenschirm für diesen Tag" ist ein
Lebenskünstler, der auf diese Art ein wenig Geld verdient. Auf
seinen stundenlangen Streifzügen durch die City einer
Großstadt befindet sich der 46-jährige
Erzähler auf einer ständigen Gratwanderung zwischen
Absturz und Überleben und beobachtet dabei seine Umwelt auf
eine Weise, die nicht alltäglich ist. Seine Wahrnehmung ist
fixiert auf die kleinen Dinge des Lebens. Dies können Tauben
sein, die durch eine Unterführung fliegen, eine Arbeiterfrau,
die Wäsche aufhängt oder ein Junge, der in einem
Brunnen mit seinem Segelboot spielt.
Seine Frau, eine frühpensionierte Lehrerin, hat ihn verlassen,
weil er keinen seriösen Beruf ausübt. Er
tröstet sich mit Margot, die ihren Friseursalon
schon mal schließt, wenn er zu Besuch kommt. Margot ist nicht
die einzige Frau, mit der er eine Affäre hat. Da gibt es auch
noch Susanne, eine gescheiterte Schauspielerin, auf die er sich
einlässt. Von anderen Frauen, die gelegentlich seinen Weg
kreuzen, hält er sich lieber fern. So will er zum Beispiel mit
der aufdringlichen Doris, die er vor einem Zoogeschäft trifft,
nichts zu tun haben. Sie will ihm einreden, dass er bestimmt
weiße Mäuse
kaufen will, weil er als Kind welche haben wollte. So werden bei seinen
vielen zufälligen Begegnungen in der Großstadt immer
wieder Kindheitserinnerungen geweckt. Ein Blick in die Zukunft ist bei
seinem Lebensstil verpönt. Manchmal hat er Angst davor
verrückt zu werden.
In seinem Umfeld gibt es zahlreiche gescheiterte Existenzen. So zum
Beispiel Herrn Habedank, der sich für einen passablen Fotografen
hält und zu guter Letzt Prospekte verteilt oder Frau Dornseif,
eine einfallslose Animateurin ohne Zukunft. Er selbst muss eine
gewaltige Honorarkürzung hinnehmen. Probleme hat er damit
nicht.
Ihn als erfolglos darzustellen wäre zu einfach. So
führt seine eher scherzhafte Äußerung, er
sei Leiter eines Institutes für Gedächtnis- und
Erlebniskunst dazu, dass er eine Kundin bekommt und diese zufrieden
stellen kann. Sein Vorsprechen für Herrn Habedank beim
Generalanzeiger bewirkt, dass er selbst einen Auftrag erhält,
einen Artikel über das Sommerfest in der Innenstadt zu
schreiben. Seine Wahrnehmungen auf dieser Veranstaltung sind eigenartig
und passen zu seinen sonstigen alltäglichen Beobachtungen der
Nebenschauplätze. Letztendlich bleibt er Schuhtester, und
morgen ist auch noch ein Tag.
Der Roman ist in einer einfachen Sprache verfasst. Die Perspektive ist
die der kleinen Leute, und die Stimmung ist eher melancholisch. Es sind
die Merkwürdigkeiten des Alltags, die dem Werk Leben
einhauchen.
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, arbeitete nach dem Abitur
bei dem linkssatirischen Monatsmagazin "Pardon". In den 1970er Jahren
hatte er Erfolg mit der Roman-Trilogie "Abschaffel". Weitere Werke von
ihm sind u.a. "Falsche Jahre", "Das Licht brennt ein Loch in den Tag"
und "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman". Bekannt ist Genazino auch als
Hörspielautor. Heute lebt er als freier Schriftsteller in
Heidelberg.
(Klemens Taplan; 04/2003)
Wilhelm
Genazino: "Ein Regenschirm für diesen Tag"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2001. 173 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2003.
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Wilhelm Genazino starb am 12. Dezember 2018 in Frankfurt am Main.
Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Die Liebesblödigkeit"
Lange schon lebt der Apokalypse-Spezialist und Seminarleiter eine
Ménage à trois, ohne dass die Frauen davon
wissen. Doch langsam kommt er in ein kritisches Alter, und das
Liebesleben leidet immer mehr unter der Anstrengung, Sandra und Judith
voneinander fern zu halten. Eines Tages beschließt er, sich
von einer der beiden zu trennen - doch welche soll es sein? Die
Entscheidung, die sein Leben erleichtern sollte, macht alles nur noch
auswegloser. Ein ironisches Bekenntnis zum "Durcheinander des
Liebeslebens". (dtv)
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"Abschaffel-Trilogie"
Abschaffel, Flaneur und "Workaholic des
Nichtstuns"
streift durch eine Metropole der verwalteten Welt. Mit innerer
Fantasietätigkeit kompensiert er die äußere
Ereignisöde seines Angestellten-Daseins und schlägt
alle Zerstreuungsangebote der Freizeitindustrie aus. Im Verlauf der
Trilogie unternimmt Abschaffel mehrere kläglich-komische
Anläufe zum Ausbruch: Zum Beispiel versucht er sich selbst in
der Rolle des Nutznießers von Ausbeutung, als
Zuhälter nämlich. Zu guter Letzt jedoch zwingt ihn
eine psychosomatische Krankheit zu einem mehrwöchigen
Kuraufenthalt. Immerhin eröffnet sich ihm hier endlich die
Möglichkeit der Reflektion. (Hanser)
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"Eine Frau, eine
Wohnung, ein Roman"
Mit einem ironischen Blick auf die 1960er-Jahre beschreibt Genazino den
Weg eines jungen Mannes: Ein Träumer, der immer an dasselbe
denkt: ans Lesen und Schreiben. Und daran, endlich erwachsen zu werden
und die drei Dinge zu haben, die es dazu braucht: eine Frau, eine
Wohnung und einen eigenen, selbst geschriebenen Roman. Vorerst
führt er jedoch ein Doppelleben zwischen Lokalblatt und
Lieferscheinen ... (dtv)
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"Der gedehnte Blick"
Was macht komische Bücher komisch? Was macht erfolglose
Autoren erfolglos? Wilhelm Genazino - berühmt für
seine Beobachtungsgabe und seinen Wortwitz - über Theodor W.
Adornos Humor, über
Fotografien, über das
Lachen und
andere Begebenheiten. Wie immer gelingt es ihm, aus scheinbar
Alltäglichem, Banalem das Verblüffende,
Unerhörte, nie Gesehene herauszulesen. (dtv)
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