Wilhelm Genazino: "Mittelmäßiges Heimweh"
"Trotz
aller Mühe, aus meiner Ehe etwas Besonderes zu machen, bin ich
jetzt sicher, dass auch meine Ehe mittelmäßig war.
Schon meine Eltern waren mittelmäßig, meine
Kindheit
war mittelmäßig, außerdem meine Schulzeit,
mein Abitur und das Studium, aber seit dem letzten Anruf steuere ich
auf das Mittelmäßigste zu, was es überhaupt
gibt: auf eine Scheidung."
(Auszug aus "Mittelmäßiges Heimweh")
Gedehnte Betrachtungen eines emotional Unscheinbaren
Wilhelm Genazinos Romanhelden sind meist Lebenskünstler,
Tagträumer, Außenseiter oder gescheiterte
Existenzen. Er besitzt eine gute Beobachtungsgabe und hat ein Faible
für die kleinen Dinge des Lebens, die andere Menschen
übersehen. Detailbesessenheit, vom Durchschnitt abweichende
Perspektiven und gedehnte Betrachtungen belangloser Ereignisse sind
Markenzeichen seiner Romane. Es sind die Unzulänglichkeiten
und Peinlichkeiten des Alltags, die seinen Romanen Leben einhauchen.
In diesem Buch erzählt Autor Genazino einen
Abschnitt aus dem Leben von Dieter Rotmund, der als Controller in einer
Arzneimittelfabrik tätig ist. Protagonist Rotmund pendelt am
Wochenende zwischen dem Schwarzwald, wo seine Frau Edith und seine
Tochter Sabine leben, und der Großstadt, in der er aus
beruflichen Gründen eine Zweitwohnung unterhält.
Dieser Lebensstil kostet
Geld, und so fährt Rotmund meist
schwarz mit der Bahn und besucht auch schon einmal das Pfandleihhaus.
Seine Ehe geht in die Brüche als seine Frau Edith ihm gesteht,
dass sie ein Verhältnis mit einem
Architekten
aus dem Nachbardorf hat. Obwohl vom Naturell eher ein
Einzelgänger, findet er sich bald in den Armen von Sonja
wieder, der Vormieterin seiner Wohnung, die Kontakt mit ihm aufnimmt,
weil sich im Keller seiner Wohnung noch ein paar Pappkartons von ihr
befinden. Sonja ist eine seltsame Person voller Geheimnisse.
Es ist die emotionale Gleichgültigkeit, die kennzeichnend
für Rotmund ist und die den Kern des Romans ausmacht. Dies
gilt für seine eigenen Gefühle und auch für
die Wahrnehmung seiner Person durch andere Menschen seiner Umgebung. So
kann man schon einmal ein Ohr verlieren, und kaum jemand merkt das.
Mit dieser Symbolik
unterstreicht Autor Genazino die emotionale
Mittelmäßigkeit seines Protagonisten. Hier wird
innerer Verlust an Gefühl äußerlich
sichtbar gemacht. Die Reaktionen auf diesen seltsamen Verlust sind an
Skurrilität nicht zu überbieten.
Es sind die Sachlichkeit des Ich-Erzählers, seine
Beobachtungen und seine Gedankengänge, die wesentlich zur
Komik beitragen. Die Lebenskrise des Protagonisten scheint unabwendbar
zu sein. Die unerwartete Beförderung zum Finanzdirektor
beeinflusst zwar die finanzielle Situation, ändert aber nichts
an seiner Mittelmäßigkeit. Rotmund stolpert weiter
durchs Leben und führt ein scheinbar langweiliges Leben voller
zufälliger Begegnungen, die seinen Alltag bestimmen.
(Klemens Taplan)
Wilhelm
Genazino: "Mittelmäßiges Heimweh"
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