Johannes Gelich: "Die Spur des Bibliothekars"
"Was
ich war, war auch Tanzer gewesen. Wo Tanzer gewohnt hatte, wohnte auch ich. Wo
Tanzer gearbeitet hatte, arbeitete auch ich. Wo Tanzer geliebt hatte?"
Eine bezaubernde, sanfte Novelle um Heimkehr in die Fremde
Johannes Gelich hat die
Novelle in unterschiedliche Abschnitte, was Zeit und Darstellungsform anbelangt,
gegliedert. Der Ich-Erzähler, Florian Servaes, berichtet von den Ereignissen
in Rumänien, als er sich bereits wieder in Wien befindet, kurz vor dem erneuten
Aufbruch nach Iasi. Die Einschübe, die den Grübelnden in seiner Wiener Wohnung
zeigen, das Vorgefallene rekapitulierend, wieder und wieder den Tonaufnahmen
von llinkas Aussagen über Tanzer lauschend, während unaufhörlich das Telefon
läutet und der Zeitpunkt seiner Abreise näher rückt, sind kursiv gedruckt und
im Präsens abgefasst. Johannes Gelichs sanfte Sprache drängt sich niemals vor
die Figuren, sie befördert meisterlich Eindrücke wie auch Stimmungen, ohne dabei
überladen zu wirken.
Die Geschichte
Der Ich-Erzähler will
sich seiner Seelenruhe vergewissern - mehr noch, tabula rasa machen, indem er
von den Ereignissen berichtet. So meint er einleitend: "Nur
die
Schrift und jeder Buchstabe garantieren mir Anfang und Ende dieser Geschichte.
Vor allem das Ende."
Im Schlussabschnitt fügt
er hinzu: "Jetzt ist die Geschichte aufgeschrieben. Ich habe mich aufgelöst in
der Schrift. Ich kann die Geschichte vergessen. Die Schrift versichert mir, dass
zu Ende ist, was noch nicht einmal begann." Somit ist er endgültig frei und bereit,
eine neue Seite in seinem Leben aufzuschlagen.
Der Gemütsverfassung nach passt Florian ohnedies schon längst nicht mehr in das Wien
des Jahres 2002; eine Tatsache, die ihm seine vorübergehende Rückkehr in die österreichische
Bundeshauptstadt vollends bewusst macht. Die inzwischen erfolgte Währungsumstellung
trägt ebenfalls dazu bei, dass er sich in seinem Geburtsland fremd fühlt, und
nach Ablieferung des "Berichts" in der "Causa Tanzer" (der übrigens typisch österreichisch
aufgenommen wird ...) in die Fremde, Rumänien, sozusagen heimkehrt. Wien mit seiner
leeren Nostalgie und die Wiener mit ihrer gleichermaßen hektischen wie blinden
Fortschrittswut entsprechen nicht mehr seiner Vorstellung von einer lebenswerten
Umgebung, und das gesteht er sich nun auch endlich ein ...
Doch wie hat die Geschichte begonnen?
Magister Florian Servaes,
ein dreißigjähriger Junggeselle, in der Wiener Stadtbibliothek mehr "ansässig"
als tatsächlich tätig ("Nichtleistungspersonal" also), nimmt unter recht geheimnisvollen
Voraussetzungen auf Geheiß des Oberbibliothekars des Außenamtes, Rusetzky, eine
einträgliche Stelle in der Österreichischen Bibliothek in der rumänischen Stadt
Iasi an. Sein Vorgänger in Iasi, Tanzer, ist nämlich spurlos verschwunden, und
Florian Servaes soll ihn unauffällig aufspüren, ohne "offiziellen" Auftrag,
versteht sich.
Das Klima an Florians bisherigem Arbeitsplatz, der Wiener Stadtbibliothek - seinem
einzigen Refugium, wenn man von der miefigen Wohnung einmal absieht - hat sich
unter der neuen Regierung ("die Wende zur Jahrtausendwende") deutlich verschlechtert,
und Johannes Gelich bringt es zuwege, diese Veränderungen überaus charmant, ohne
dabei wehleidig zu klingen, als gelungene Seitenhiebe auf das in den letzten Jahren
durch die österreichische Bürokratie geisternde Phantom der Verwaltungsreform,
darzustellen. Ebenso bereichern seine Einflechtungen gesellschaftspolitischer
Entwicklungen und typisch österreichischer Zustände die Geschichte zusätzlich
um einige unterhaltsame Facetten.
Florian Servaes, der es bis dahin als größte Leistung seines Lebens bezeichnet, 1977 der
einzige Überlebende einer Massenkarambolage im Felbertauerntunnel gewesen zu sein,
erhält ein Dossier, das ausführliche Informationen über den als vermisst gemeldeten
Bibliothekar Dr. Hans Georg Tanzer enthält.
Florian bringt seinen Kater namens
Gogol bei seinen Tanten Erika und Gudrun unter und tritt die Reise ins
Ungewisse an. Die Versetzung nach Rumänien ist als Kompromiss anzusehen, weil
Florian Servaes die Modernisierungsbemühungen seines Vorgesetzten nicht unterstützt,
gleichzeitig unkündbar ist und oftmals sein Heil in Dauerkrankenständen sucht.
Als der frischgebackene Bibliothekar nach einer langen Zugfahrt durch malerische Landstriche am 18.
September 2000 in Iasi eintrifft, findet er die dortige Bibliothek in baulich
wie ausstattungsmäßig desolatem Zustand vor, und bereits das Ausfindigmachen
der Schlüssel birgt erste Eigentümlichkeiten, die darauf hindeuten, dass weitere
Geheimnisse der Enthüllung harren.
Das Leben in der rumänischen Stadt sagt dem Neuankömmling auf Anhieb zu, und er richtet
sich behaglich ein, ganz anspruchsloser, wortkarger Einsiedler. Diese Eigenschaften,
in Wien mehr als hinderlich denn identitätsstiftend empfunden, passen zu seiner
neuen Umgebung, fast wie der sprichwörtliche Schlüssel zum Schloss: Florian fühlt
sich wohl, ohne so recht zu wissen, weshalb. Allein der Ausblick auf das sich
vor seinem Fenster ausbreitende Brachland verzückt ihn immer wieder aufs Neue,
ständig gibt es dort etwas zu beobachten, und die Verlangsamung des Daseins an
sich ist Balsam für seine romantische Seele.
Nach, wie ihm erst viel später auffällt, sprachlosen Wochen in träumerischer Einsamkeit
ist die erste Leserin, die sich in die Bibliothek verirrt, die Lehrerin Ilinka.
Zwischen Florian Servaes und der Rumänin entwickelt sich so etwas wie Freundschaft,
wobei von Anfang an klar ist, dass Ilinka nicht mit offenen Karten spielt. Jeder
der beiden hat eigene Gründe, dem Anderen nahe sein zu wollen: Florian verliebt
sich nämlich in die schwarzhaarige Frau mit Zahnlücke, sie will jedoch Auskünfte
über den Verbleib Tanzers, sonst gar nichts, und ihr zumeist auf Florians Fragen
folgendes Schweigen macht die Angelegenheit nicht einfacher.
Nun wäre es vielleicht an der Zeit zu erfahren, was die verschiedenen Quellen über
den abgängigen Tanzer verraten:
"Ich bin ein anderer im Osten", sagte er. Die
Donau
war für ihn eine magische Schwelle, er war studierter Historiker, CV-Mitglied,
ein guter Schachspieler
und in seine Arbeit vernarrt. Er leitete Bibliotheken in Sofia und Sarajevo,
hatte die Diplomatische Akademie absolviert, führte einen gehobenen Lebensstil,
bis er schließlich, infolge des Desinteresses rumänischer Politiker und Medien
an einer von ihm organisierten Ost-West-Konferenz in Iasi, nervlich am Ende
und auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, die Bibliothek aufgab. Danach soll
Tanzer angeblich versucht haben, ein Netz zum Zweck des Ikonenschmuggels aufzuziehen.
Hat Hans Georg Tanzer Selbstmord begangen, wie er angeblich angekündigt haben soll?
Oder wurde er aufgrund seiner Geschäftemacherei mit Ikonen umgebracht? Wenn nicht,
wo hält er sich versteckt?
So vergehen die Monate, Florian und Ilinka kommen einander in Gesprächen und bei
gemeinsamen Unternehmungen näher, unterbrochen von längeren Phasen der Trennung;
einmal beispielsweise, nachdem Florian auf Ilinkas Frage, warum er
nach
Rumänien gekommen sei, keine Antwort weiß; ein andermal, als eine geplante
gemeinsame Reise ins Wasser fällt.
Die lange hinausgeschobene Erfüllung des widerwillig angenommenen Auftrags
Als Florian schließlich,
mehr um Ilinka für sich zu gewinnen als um seinen Auftrag zu erfüllen, konkrete
Nachforschungen hinsichtlich des Verbleibes seines Vorgängers anstellt, hat
er sich innerlich vom passiven Beobachter seines eigenen Lebens, vom resignierenden,
antriebslosen Großstädter zu einem aufmerksamen Menschen gewandelt, der nicht
länger davor zurückschreckt, Entscheidungen zu treffen - gewissermaßen infiziert
mit der unmittelbaren Lebendigkeit, die er in Iasi mit jedem, anfangs noch schwerfälligen,
Schritt, mit jedem Atemzug in sich aufgenommen hat.
Klarheit, und zwar in mancherlei Hinsicht, bringt letztendlich eine Bootsfahrt im Labyrinth
des Donaudeltas.
Wird Florian Servaes Tanzer finden, und wie wird die Geschichte ausgehen? Wer ist die
reservierte Ilinka in Wahrheit?
Ich möchte Sie einladen, die Spur des Bibliothekars aufzunehmen, ihr zu folgen, in
eine von der Zeit vergessene Kleinstadt, in das Donaudelta, in die Gedankenwelten
der Protagonisten.
Abschließend werfen wir noch einen Blick auf reale Begebenheiten
Am 7. Juni 2002 wurde
die neue Österreich-Bibliothek in Chisinau, in der Republik Moldau, eröffnet,
als Österreichs erste ständige kulturelle Kontaktstelle vor Ort. Johannes Gelich,
seinerzeit in Iasi als Lektor tätig, war an diesem Projekt beteiligt.
Auch ein paar erklärende Worte zur Gattung "Novelle" seien an dieser Stelle gestattet:
Der
Aufbau ähnelt grundsätzlich jenem eines Dramas. Zu bemerken ist neben der allgemein
kürzeren, berichtenden Erzählform eine vorwiegend einsträngige Handlungsführung,
auch ist die Anzahl der vorkommenden Personen auf einige wenige begrenzt. Novellen
erheben Anspruch auf einen gewissen Wahrheitsgehalt. Wie meinte doch Goethe einst:
"Denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit."
Und so müssen es sich alle Novellen gefallen lassen, von Lesern u. a. nach der
geforderten "unerhörten Begebenheit" durchsucht zu werden ...
Johannes Gelich wurde 1969
in Salzburg geboren, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik
in Wien, wo er derzeit lebt. Er verfasste Arbeiten für den Hörfunk (Hörspiele
und Reportagen) und veröffentlichte in Zeitungen und Zeitschriften.
(kre; 03/2003)
Johannes
Gelich: "Die Spur des Bibliothekars""
Otto Müller Verlag, 2003. 180 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Der afrikanische Freund"
Ein verstörender Roman, der vom Schrecken erzählt, den die Langeweile gebiert.
Eher unfreiwillig ist der namenlose Ich-Erzähler in seine Geburtsstadt
gekommen: Er muss sich um die Beerdigung seines Vaters kümmern. Große Gefühle
stellen sich nicht ein; er ist ein Fremder in dieser Stadt.
Da trifft er zufällig Max, einen alten Schulkameraden, der ihn auf seine Burg
einlädt, wo er mit Freunden das alljährliche "Weekend" vor
Beginn der Festspiele veranstaltet. Es gibt keinen Grund, das abzulehnen. Und so
nimmt das unheimliche Treiben im Kellergewölbe der Burg seinen Lauf:
Alkohol
fließt in Strömen, Prostituierte werden bestellt, Hugo, ein Starkoch aus
Reykjavik, serviert obszöne mittelalterliche Speisen, ein großes Fressen hebt
an.
Plötzlich läutet ein Mann an der Tür, den die Gruppe wegen seiner Hautfarbe
sofort für einen Drogenhändler hält und den man übermütig zum Essen einlädt.
Als sich der Fremde als Bibelverkäufer entpuppt, eskaliert die Situation, und
der betrunkene Burgherr wird hemmungslos aggressiv. Niemand hilft, auch nicht,
als längst unabweisbar klar ist, dass das zwingend notwendig wäre. Nach und
nach verwandelt sich die Burg in ein grauenhaftes Gefängnis, aus dem es für
alle Beteiligten kein Entrinnen zu geben scheint.
Johannes Gelich hat ein morbides Kammerspiel inszeniert, das mit bohrender
Intensität unser Selbstverständnis in Frage stellt. (Wallstein Verlag)
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