Johannes Gelich: "Chlor"
"Aus dunstigem Tal die Welle |
Das u.a. als Desinfektionsmittel verwendete reaktionsfreudige Element Chlor ist bekanntlich für den typischen Schwimmbadgeruch verantwortlich. Gleichsam am anderen Ende einer gedachten Reaktionsfreudigkeitsskala steht Hans, Johannes Gelichs verschrobener Icherzähler mit Vorliebe für die Meeresfauna, Scheidungskind, studierter Philosoph, darob Heidegger-Experte, verheiratet, passionierter Stadthallenbadbesucher und - zu Beginn der Geschichte - als Kommunikationsberater in Wien beschäftigt. |
"Chlor" in Buchform
verursacht keine geröteten Augen
Die schicksalhafte Hinwendung zum
Wasser wie auch der Name Hans verweisen auf frühere Bearbeitungen des Undine-Stoffs
durch andere Autoren, jedoch greift Johannes Gelichs "Chlor" wesentlich
weiter und kann nicht ausschließlich als wechselvolle Beziehungsgeschichte,
sondern ebenso als treffsichere Zeit- und Gesellschaftskritik gelesen werden,
denn zweifellos schrieb sich da jemand mancherlei Unmut von der
Seele.
Eines Tages steht Hans plötzlich ohne Einkommen da, entlassen
aufgrund von "umstrukturierenden Reengineeringmaßnahmen", und zwar von
seiner Abteilungsleiterin mit dem bezeichnenden Namen Kain, auch "Die mit dem
Wort tanzt" sowie "Letter-Woman" genannt. "Ihre Arbeit ist
interessant, eröffnet Zukunftsperspektiven und lässt Ihrer Kreativität genügend
Spielraum, deswegen sind Sie motiviert und arbeiten bei AUSTROCOM, nicht um Ihre
Brötchen zu verdienen, haben Sie verstanden?", erläuterte die
Abteilungsleiterin ihm einmal die auf dem modernen Sklavenmarkt geltenden
Regeln. Nicht von ungefähr zitiert Johannes Gelich u.a. aus Corinne Maiers Buch
"Die
Entdeckung der Faulheit".
Hans hält die Kündigung vor seiner Frau
Vivien, einer studienbedingten Expertin für das Undine-Thema, die sich quasi Tag
und Nacht als "PR-Managerin" verausgabt und oft auf Geschäftsreisen ist,
krampfhaft (und für den Leser unterhaltsam) geheim und begibt sich von nun an
tagsüber zumeist ins Stadthallenbad, wo sich die beiden einst kennenlernten, um
zu beobachten, nachzudenken, zu dösen und natürlich auch, um zu schwimmen.
Einmal muss er anderswohin ausweichen und landet zuerst im Foltermuseum und
anschließend im in einem Flakturm untergebrachten "Haus des
Meeres".
Erstaunlicherweise bleibt der unfreiwillig der Last des
brotberuflichen Funktionierenmüssens Entledigte monatelang vom Tun oder auch
Lassen des AMS ("Arbeitsmarktservice Österreich") gänzlich
unbehelligt.
Insofern zeichnet Johannes Gelich nicht unbedingt ein
realistisches Bild der Gegebenheiten, denn der durchschnittliche
"Arbeitsuchende" (der nicht schönfärbende Begriff "Arbeitsloser" wurde im
offiziellen Sprachgebrauch schon beinahe ausgerottet) wird zur Teilnahme an
auffallend fruchtlosen Kursen wie z.B. "Bewerbungscoaching"
verpflichtet.
Es scheint, als würden nicht wenige Arbeitgeber die Genesis
bewusst bösartig auslegen, denn dort heißt es zwar "Seid fruchtbar und mehret
euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die
Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über
alles Getier, das auf Erden kriecht.", dass man sich mit derlei
vermeintlichen Willkürvollmachten ausgestattet etwa zum kapitalistischen
Halbgott über "auf Erden kriechende" Dienstnehmer aufschwingen dürfe, ist daraus
freilich nicht guten Gewissens abzuleiten. Um störende Gewissensreste
auszumerzen, wurden neue Formen des Handelns und Sprechens erschaffen, geprägt
von heuchlerischer Schönfärberei und bizarrer
Worthülsenakrobatik.
Leidenschaftsloses Ausleben von
Leidenschaften
Aus diesem unlauteren Umfeld verbannt, findet Hans
ungesäumt zu einer seinen Anlagen entsprechenden Lebensweise; er pendelt
vornehmlich zwischen Badewanne und Hallenbad. Neben einer Vorliebe für Wein- und
Zigarettengenuss umfasst die neue Lebensart auch das Wiederaufkeimen seines
leidenschaftlichen Interesses am Meer und an dessen Bewohnern, weshalb sich
allerlei Populärwissenschaftliches über Wale, Delfine, Haie, Quastenflosser und
Plankton in "Chlor" findet. Übrigens erfahren auch klassische Sujets wie
der Narziss und
das
Höhlengleichnis witzige Abwandlungen bzw. Anwendungen.
Der im Präsens abgefasste Roman entwickelt sich vorwiegend als innerer Monolog des
Icherzählers: Hans lässt seine Gedanken zu misslichen Kindheitserlebnissen und
der ersten Zeit mit Vivien schweifen, beobachtet und lauscht grundsätzlich
aufmerksam und denkt nicht einmal in seinen detailreich geschilderten Träumen
daran, sich wieder einen Arbeitsplatz zu suchen.
Auch dass der nach einem
Schlaganfall verwirrte Schwiegervater ständig anruft, um sich nach seiner nicht
existierenden Enkelin Emilie zu erkundigen, gehört zum Alltag, den Hans bis hin
zu intimen Details minuziös schildert.
Man hat es mit einem von Natur aus
eher duldsamen, pessimistischen Icherzähler zu tun, der sich allerdings im
Verlauf des Romans gelegentlich durchaus einen Jux machen will, wüste Streiche
ausheckt und schließlich sogar beschaffungskriminelle Energie
entwickelt.
"Du sollst wissen, mein süßer
Liebling, dass es in den Elementen Wesen gibt, die fast aussehen wie ihr
und sich doch nur selten vor euch blicken lassen. In den Flammen glitzern
und spielen die wunderlichen Salamander, in der Erden tief hausen die
dürren, tückischen Gnomen, durch die Wälder streifen die Waldleute, die
der Luft angehören, und in den Seen und Strömen und Bächen lebt der
Wassergeister ausgebreitetes Geschlecht. In klingenden Kristallgewölben,
durch die der Himmel mit Sonn und Sternen hereinsieht, wohnt sich's schön;
hohe Korallenbäume mit blau und roten Früchten leuchten in den Gärten;
über reinlichen Meeressand wandelt man und über schöne, bunte Muscheln,
und was die alte Welt des also Schönen besaß, dass die heutige nicht mehr
sich dran zu freuen würdig ist, das überzogen die Fluten mit ihren
heimlichen Silberschleiern, und unten prangen nun die edlen Denkmale, hoch
und ernst, und anmutig betaut vom liebenden Gewässer, das aus ihnen schöne
Moosblumen und kränzende Schilfbüschel hervorlockt. Die aber dorten
wohnen, sind gar hold und lieblich anzuschauen, meist schöner als die
Menschen sind. Manch einem Fischer ward es schon so gut, ein zartes
Wasserweib zu belauschen, wie sie über die Fluten hervorstieg und sang.
Der erzählte dann von ihrer Schöne weiter, und solche wundersame Frauen
werden von den Menschen Undinen genannt. Du aber siehst jetzt wirklich
eine Undine, lieber Freund." |
Die Beziehung von Hans und Vivien
schlittert von einer Krise in die nächste. Dazu gehören ein sich in der
Wohnung ausbreitendes Rauchverbot, Kreidestriche auf dem Boden, die
"Vivienbereiche" und "Bereiche für Hans" kennzeichnen,
barsche Restkommunikationsversuche in Form von schriftlichen
Kurzmitteilungen (in besseren Zeiten waren es Haikus) sowie seltene
oberflächliche Begegnungen in der gemeinsamen Wohnung. Das eheliche
Zusammenleben, eine "körperlos gewordene Beziehung", ist längst in
bedeutungslosen Alltagsritualen erstarrt, und eine Beziehungspause wird
anberaumt. |
Wie und weshalb es dazu kommt, dass
sich der Kreis nach einer überraschenden Wendung und unter Beigabe einer Prise
Romantik schließt, Hans und seine Undine also wieder glücklich vereint sind, sei
an dieser Stelle nicht verraten.
Geist ist geil!
"Die Inszenierung von Arbeit und das Vortäuschen von Geschäftigkeit (sind) das
höchste Ziel der Arbeit."
Es genügt folglich meistens, Kompetenz und
Engagement zu simulieren und sich im Fall der Fälle hinter "unabhängigen
Experten" zu verschanzen; eine Entwicklung, die den jeweils hemmungslosesten
Dampfplauderern und Selbstdarstellern Tür und Tor öffnet.
Wechselwirkungen
von Angebot und Nachfrage sorgen nun einmal nicht zwangsweise für
Qualitätsbewusstsein, sondern ziehen in erster Linie Niveauverlust nach sich.
Der mündige Bürger ist wohl eher ein Albtraum für Politiker, ebenso der mündige
Konsument für Wirtschaftstreibende, weshalb die gnadenlose Gleichschaltung auf
Basis trivialer Gemeinplätze betrieben, der Einzelne zur Zivilträgheit erzogen
wird.
Joachim Unseld von der Frankfurter Verlagsanstalt bemerkte in "Die
Zeit" Nr. 12 vom 16.03.2006: "Bücher sind eine stille Ware: Sorgen habe
ich deshalb, wie künftig anspruchsvollere Literatur im immer derber werdenden
medialen Kampf um das knappe Gut 'Aufmerksamkeit' dastehen wird. Wie also findet
Literatur ihren Leser, wenn selbst die öffentlich-rechtlichen Medien jetzt damit
beginnen, ihr Publikum vom Anspruch 'ganz unten' abzuholen, und damit nichts
anderes betreiben als die Kultivierung der Bildungslosigkeit."
Der Dichter Paul Celan gab einst den Rat: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das
Verständnis kommt von selbst."
(kre; 03/2006)
Johannes
Gelich: "Chlor"
Ein weiteres Buch des Autors: Weitere Buchtipps: Frank Schätzing: "Nachrichten aus
einem unbekannten Universum. Eine Zeitreise durch die Meere" Katharina Hacker: "Der
Bademeister"
Literaturverlag Droschl, 2006. 213 Seiten.
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"Nirwana"
Er ist ein
Faultier und ein Träumer, er ist mürrisch, liebenswert, wohlhabend
und großzügig: Nepomuk Lakoter. Als er eines Tages stürzt und sich das Bein
bricht, ist der verschrobene Müßiggänger keineswegs unglücklich darüber. Mit
Liegegips an sein geliebtes Kanapee gefesselt, engagiert er eine rumänische
Haushälterin - doch mit Amalias Einzug ist unvermutet Schluss mit dem
beschaulichen Leben.
Auf einer vergnüglichen literarischen Schnitzeljagd macht Johannes Gelich in
diesem Roman mit einem Aussteiger bekannt, der in Sachen Antriebslosigkeit dem
großen Oblomow um nichts nachsteht. Ein ebenso satirisches wie sinnliches
Sittenbild unserer Zeit und zugleich eine Hommage an die verlorene Generation
der heutigen Übervierzigjährigen. (Haymon)
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Irene
Krieger: "Undine, die Wasserfee. Friedrich de la Motte Fouqués Märchen aus der
Feder der Komponisten"
Bei diesem Buch handelt es sich um eine
populärwissenschaftliche Arbeit, die sich nicht nur an Musikwissenschaftler
wendet, sondern allgemein verständlich formuliert an alle Menschen, die an
Märchen-, Zauberopern und -balletten interessiert sind. Forscher über Friedrich
de la Motte Fouqué und solche über
E.T.A. Hoffmann finden ebenso Informationen
wie diejenigen, die die Wirkungen und Weiterentwicklungen dieses Undinen-Themas
verfolgen. In der Arbeit sind zwölf Opern und vier Ballette ausführlich
beschrieben. Dabei werden die Geschichte und Geschichten um die Entstehung der
Opern ebenso behandelt wie ihre Rezeption in der Zeit. Die Autorin listet die
Uraufführungsrezensionen aus namhaften Musikzeitschriften auf, erläutert den
Opernstoff in seinem Bezug zum Fouquéschen Märchen und charakterisiert die
Musik. Zusätzlich listet sie alle Vertonungen auf, die um den Undinenstoff
ranken, wie Melusine, Najade, Nixe, Loreley, Nymphe und Sylphide. Sofern
vorhanden, sind Berichte über die Uraufführungen beigefügt. (Centaurus
Verlag)
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Über viereinhalb Milliarden Jahre geheimer Geschichten, wuchtiger Dramen,
verblüffender Wendungen und seltsamer Erfindungen wie Fotosynthese, Sex oder
Menschen. In seinem neuen Buch erzählt Frank Schätzing grandios vom Universum
unter Wasser - und wie es unsere Zukunft bestimmt. "Ist der Hai grausam, weil er
den Menschen frisst? Ist der Mensch grausam, weil er die Auster isst? Wird dem
Hai das Leiden des Opfers bewusst, wenn dieses schreit? Oder nimmt er das
Schreien als erfreuliches Indiz für die Frische der verzehrten Ware, so wie wir
wohlwollend das Zucken der Auster betrachten, wenn wir ihr Fleisch mit
Zitronensaft beträufeln?" Nebenbei, dies ist kein Plädoyer gegen den Verzehr von
Austern. Mensch und Meer. Eine merkwürdige Beziehung, geprägt von Liebe, Hass,
Unkenntnis, Romantisierung, Neugier und Ignoranz. Wie funktioniert dieses
gewaltige System, dem wir entstammen und über das wir weniger wissen als über
den Weltraum? Wie konnte im Urozean Leben entstehen, woher kam überhaupt das
ganze Wasser? Warum ist die Evolution ausgerechnet diesen Weg gegangen und
keinen alternativen? Denn ebenso gut hätte sie uns in intelligente,
flüssigkeitsgefüllte Luftmatratzen verwandeln können. Einmal hat sie es
jedenfalls versucht - und beinahe geschafft. Überraschung! Frank Schätzing hat
ein Sachbuch geschrieben. Eines, das so spannend ist wie "Der
Schwarm". (Fischer)
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Ein Schwimmbad mitten im Prenzlauer Berg ist geschlossen
worden. Es verrottet langsam, aber durch seine Gänge streift noch jemand
ruhelos, der dort sein ganzes Berufsleben verbracht hat: ein ehemaliger
Bademeister. Arbeitslos geworden, mag er nicht begreifen, dass mit der
Schließung alles zu Ende und dem Verfall preisgegeben sein soll. Bald verlässt
er das Bad nicht einmal mehr, um zu Hause zu übernachten. Assoziationsreich
spricht er mit sich selbst oder imaginierten Zuhörern. In Bruchstücken, die sich
erst nach und nach zu einem Bild fügen, erfährt man so die Lebensgeschichte des
Bademeisters. Dass ihm etwa ein Studium verwehrt blieb, hat auf eine dunkle
Weise mit Verfehlungen des Vaters zu tun. Weitere Geschichten gewinnen Kontur:
Der Vorgänger des Bademeisters war während des Dienstes von zwei Männern
abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht, das Bad in den Jahren des
Nationalsozialismus zu Zwecken benutzt worden, über die niemand zu sprechen
wagte. Immer neu nimmt der Erzähler Anlauf, um sich seiner selbst zu
vergewissern. (Fischer)
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