Wolfgang Wieser: "Gehirn und Genom"
Ein neues Drehbuch für die Evolution
Kulturelle
und phylogenetische Evolution als sich selbst verstärkende
Wechselwirkung
Seit einigen Jahrzehnten streiten Biowissenschaftler darüber,
ob für die Evolution des Menschen die Gene oder die Kultur die
Hauptrolle gespielt haben oder spielen.
Im ersten Fall wäre die Entwicklung der Hominiden ganz
wesentlich vom Zufall abhängig - aufgrund von
willkürlich stattfindenden Mutationen. Andernfalls
müsste man der Evolution zugestehen, dass sie zumindest in
Teilen gerichtet verläuft.
Der Zoologe Wolfgang Wieser tendiert klar zur zweiten Ansicht. Er
betrachtet die Phylogenese des Menschen und seiner nächsten
Verwandten und stellt fest, dass sich die rasante Entwicklung des
Menschen keineswegs allein aus genetischer Sicht erklären
lasse.
Dem phylogenetischen Aspekt steht die kulturelle Evolution
gegenüber, angetrieben durch die Möglichkeiten eines
außergewöhnlich großen Gehirns mit sehr
intensiver Vernetzung. Durch das Fortschreiten der
kommunikativen
Möglichkeiten ließen sich die Gehirne der einzelnen
Mitglieder von menschlichen Gemeinschaften immer effektiver miteinander
verknüpfen, auch über Generationen hinweg.
Während unsere Körper sich seit Jahrzehntausenden
kaum verändert haben, ist unsere Kultur regelrecht explodiert.
Der Autor untersucht die verschiedensten Aspekte der menschlichen
Evolution und stellt ihr häufig Gegenstücke oder
Parallelen aus dem Tierreich gegenüber. Zudem spürt
er dem Ursprung des "menschlichen Sonderwegs"
in Sachen Gehirn nach.
Manches Indiz deutet darauf hin, dass ein einzelnes Gen die Entwicklung
unseres einzigartigen Gehirns angestoßen hat und dann eine
sich selbst verstärkende Wechselwirkung zwischen
phylogenetischer und kultureller Evolution eintrat, als neue, durch das
fortschrittliche Gehirn möglich gewordene Lebensweisen eben
dieses Gehirn reizten, Grenzen zu überschreiten, wodurch
wiederum neue genetische Varianten bevorzugt wurden. Hier und da stellt
sich die kulturelle Evolution freilich selbst ein Bein, wenn etwa die
Yanomamö-Indianerinnen traditionsgemäß
diejenigen Männer in ihrem jeweiligen Dorf am anziehendsten
finden, die mindestens einen Mann aus einem Nachbardorf
getötet haben.
In diesem Zusammenhang ist es auch sehr interessant, mit dem Autor
matrilineare (wenn auch nicht unbedingt matriarchalische) und
patriarchalische Primatengemeinschaften zu betrachten, deren Kulturen
sich trotz enger genetischer Verwandtschaft höchst
unterschiedlich präsentieren.
Der Autor stellt seine Argumente logisch, gut gegliedert und
nachvollziehbar vor. Das Buch liest sich schon aufgrund der
Fülle und der Vielfalt der konkreten Beispiele kurzweilig und
überzeugt, auch wenn der Autor gelegentlich seine Abneigung
gegen Anhänger der "anderen" Seite, also Verfechter der
Dominanz der Phylogenese, so zum Beispiel
Richard Dawkins, etwas
detaillierter darlegen könnte.
Wieser verficht ganz klar die Bedeutung der kulturellen Evolution,
deren Auswirkungen sich dem Leser anhand der Lektüre
problemlos erschließen, doch er nimmt eine ausgewogene
Haltung ein, indem er das
Gewicht der Gene keineswegs negiert. Ebenso
wenig will er die Geschichte der Evolution der letzten paar Millionen
oder hunderttausend Jahre neu schreiben, denn die Protagonisten und die
wesentlichen Elemente der Handlung dieses Films stehen eindeutig fest,
aber, wie auch der Untertitel des Buchs verrät, die Zeit ist
Wieser zufolge reif, aus diesem Stoff ein neues Drehbuch der Evolution
zu machen, das jüngste Erkenntnisse aus allen Bereichen der
Forschung berücksichtigt.
(Regina Károlyi; 05/2007)
Wolfgang
Wieser: "Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die
Evolution"
C.H. Beck, 2007. 285 Seiten.
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Wolfgang Wieser ist Professor em. für Zoologie an der Universität Innsbruck.