Manfred Spitzer: "Selbstbestimmen"
Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?
"In diesem Buch geht es nicht um schnelle
Antworten, sondern darum, im Lichte der Ergebnisse der Gehirnforschung und verwandter
Forschungsgebiete besser zu verstehen, wie wir bewerten, entscheiden und handeln."
(Manfred Spitzer)
Manfred Spitzer geht der Frage nach, wie wir bewerten, entscheiden und handeln.
"Selbstbestimmen" von
Manfred Spitzer ist ein hochinteressantes Buch, das eine Fülle an Informationen
über den derzeitigen Stand der Gehirnforschung enthält. Der Autor erklärt jedes
Detail anhand vieler Versuchsanordnungen und deren Ergebnissen. Das Buch gibt
nicht nur Auskunft über die Methoden, mit denen geforscht wird, sondern
ermöglicht dem Leser aufgrund zahlreicher praktischer Beispiele, diese auch
selbst anzuwenden; Bilder und schematische Darstellungen von Versuchsanordnungen
erleichtern dem Leser das Verständnis, der oft komplizierten
Untersuchungen.
Spitzer beweist darüber hinaus die These von der Freiheit
des menschlichen Handelns und der menschlichen Selbstbestimmtheit. Er meint, je
mehr wir über die Vorgänge in unserem Gehirn Bescheid wissen, desto freier
könnten wir in unserem praktischen Leben entscheiden.
Das menschliche Gehirn
lernt, bewertet, entscheidet und lässt uns handeln. Es gibt auf der gesamten
Welt nicht zwei exakt gleich funktionierende Gehirne, weil jeder Mensch andere
Dinge erfährt und sogar dieselben gemachten Erfahrungen anders
bewertet.
Im ersten Teil des Buches beschreibt Manfred Spitzer, wie das
funktioniert. Jede unserer Erfahrungen löst im Gehirn Bewertungen aus, auf deren
Grundlage wir entscheiden, wie wir handeln sollen. Jeder dieser Vorgänge
hinterlässt dabei eine Spur. Aus diesen vielfältigen Spuren entsteht in unserem
Gehirn eine Art Vernetzung, die letztendlich unser Handeln ermöglicht. Folglich
nehmen die Möglichkeiten zur Bestimmung unserer Handlungen im Laufe unseres
Lebens immer mehr zu.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Funktion
des Gehirns, Dinge und Vorgänge zu bewerten.
Manfred Spitzer beschreibt, wie Entscheidungen entstehen, ob und wie wir wirklich
selbstbestimmt handeln. Das Gehirn beachtet bei seiner Funktion Signale aus
dem Körper. Emotionen sind dabei nicht Widersacher der Vernunft, so Spitzer,
sondern Helfer. So ist beispielsweise unser Einkaufsverhalten, wenn wir hungrig
durch ein Lebensmittelgeschäft gehen, anders, als wenn wir sattgegessen dort
einkaufen.
Dafür ist unser Lustzentrum, der "Nukleus accumbens" verantwortlich. Hierzu
beschreibt Spitzer einen Versuch, bei dem Ratten eine Elektrode in den Nukleus
accumbens eingeführt wurde, wobei die Versuchstiere in weiterer Folge die Häufigkeit
der Stromzufuhr eigenständig durch einen Druck auf eine Taste bestimmen konnten.
Die Ratten machten
daraufhin nichts Anderes, als diese Taste zu betätigen, so dass sie dabei sogar
verhungerten. Folglich könnte man darauf schließen, dass wir in erster Linie
lustorientiert entscheiden und handeln.
Im dritten Teil des Buches beschäftigt sich Spitzer mit unseren
Entscheidungen.
Dabei bewertet das Dopaminsystem unser Erleben und schafft
Bedeutung. Die Resultate daraus werden in unserem Frontalhirn, das beim Menschen
im Gegensatz zu Primaten extrem ausgeprägt ist, gespeichert und in Folge für die
Entscheidungen genützt. (Wir entscheiden beispielsweise vier mal pro Sekunde,
wohin unser Blick gehen soll.)
Das Gehirn sucht dabei immer nach Regeln:
Führt also eine Entscheidung zu einem bestimmten guten Ergebnis, entscheide ich
wieder so. Wir interpretieren folglich zufällige zeitliche Abfolgen als
Regeln.
Das menschliche Gehirn entwickelt sich immer weiter dahin,
selbstbestimmtes Handeln mehr und mehr zuzulassen. Es bewertet und entscheidet,
um zu handeln. Wenn es dabei ohne größere Störung arbeiten kann, so Spitzer,
können wir unsere Entscheidungen als frei bezeichnen.
Der Autor zeigt dazu weitere Einflüsse auf die Entscheidungen unseres Gehirns auf.
Er stellt dar, dass Tiere ebenso nicht nur instinktiv, sondern auch moralisch handeln und
umgekehrt das Handeln des Menschen auch durch Instinkt geprägt sein kann.
So beobachtete beispielsweise die berühmte Verhaltensforscherin
Jane Goodall,
wie zwei Schimpansengruppen nahezu strategisch "Krieg" führten und dabei sogar
einige Tiere zu Tode kamen.
Affen
zeigen Mitleid, haben Begrüßungsrituale und kümmern sich um ihre Artgenossen,
wenn diese alt sind und sterben.
Es wurde beobachtet, dass Suchhunde, die nach dem Erdbeben in Mexiko City eingesetzt
wurden, zunehmend depressiv reagierten, als unter den Trümmern nur noch Leichen
gefunden wurden.
Der Mensch, dem mancher Artgenosse instinktive
Handlungen nicht mehr wirklich zutraut, beweist bei seiner Partnerwahl genau das
Gegenteil: Frauen suchen sich überwiegend ihre Partner danach aus, ob diese sie
und die (zukünftigen) Kinder versorgen können. Sie entscheiden also aufgrund von
Status und Zuverlässigkeit des Partners. Männer dagegen wählen Frauen nach ihrer
maximalen Fruchtbarkeit aus. Sie entscheiden aufgrund von körperlichen
Merkmalen, nämlich Jugend und Gesundheit. Die Folge davon ist, dass in den USA
Männer bei der ersten Eheschließung durchschnittlich drei, bei der zweiten fünf
und bei der dritten etwa acht Jahre älter als ihre jeweils aktuellen
Partnerinnen sind.
Unsere Entscheidungen basieren nicht nur auf Einsicht,
sondern auch auf der von uns erlernten Moral. Nicht wenige Menschen reagieren
auf Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, mit Dumpfheit und Apathie.
Primaten können ebenfalls darüber entscheiden, ob sie gerecht oder ungerecht
belohnt wurden. In großen Gemeinschaften haben sich deshalb gewisse Regeln
entwickelt, die wir normalerweise auch einhalten, wenn wir sie z. B. sinnvoll
finden.
Das Schlusskapitel widmet Spitzer dem, was unser Gehirn in seiner
Arbeit behindert, also unseren "Selbstbehinderungen". Normalerweise tut ein
Mensch automatisch das Richtige, außer er ist durch falsche Erfahrungen,
falsches Denken, Irren, Selbstverachtung, -verletzung, -vernichtung oder
Gefühlsverweigerung dieser Funktion beeinträchtigt.
Dagegen hilft, dass wir lernen zu denken, unsere Bewertungen zu verändern und die Selbsterkenntnis zu
steigern. Für Manfred Spitzer führt Hirnforschung dazu, unser Handeln besser zu
verstehen und uns darüber hinaus zu verändern.
Umso mehr wir also über die Vorgänge in uns (also auch in unserem Gehirn) Bescheid wissen, desto
besser können wir denken und folglich handeln.
Manfred Spitzer widmete dieses Buch seiner Tochter zum 18. Geburtstag. Mit dieser emotionalen
Einstiegsidee interessiert er den Leser auf geschickte Weise für sein Thema. Er
erklärt sozusagen seiner nun erwachsenen Tochter die Vorgänge im Gehirn, die zu
Entscheidungen führen, um ihr diese in ihrem weiteren Leben zu erleichtern und
gibt ihr damit Entscheidungsfreiheit mit auf den Weg.
Das Buch ist sowohl für Fachleute, als auch vor allem für interessierte Laien geschrieben.
Nicht nur die Darstellung jener Funktionen, die
das
Gehirn für unser Leben leistet, sondern auch die praktischen Beispiele,
wie Untersuchungen und deren Umsetzung für unser praktisches Leben, sind gut
nachvollziehbar, einleuchtend und interessant. "Selbstbestimmen" ist voller
aufschlussreicher Informationen über die Arbeitsweise der Gehirnforschung. Wer
es liest, sollte es nicht nebenbei lesen, sondern sich getrost die dafür erforderliche
Zeit nehmen.
(Ingrid)
Manfred Spitzer: "Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir
tun?"
Spektrum Akademischer Verlag.
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Manfred Spitzer ist Professor für
Medizin an der Universität Ulm, wo er die Psychiatrische Universitätsklinik
leitet. Er studierte
Medizin,
Psychologie und
Philosophie in Freiburg. Nach den
Promotionen in Medizin (1983) und Philosophie (1985) sowie dem Diplom in
Psychologie (1984) und einer Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie prägten
zwei Gastprofessuren an der Harvard-Universität und weitere
Forschungsaufenthalte in den USA seine wissenschaftliche Arbeit an der
Schnittstelle von Neurobiologie, Psychologie und Psychiatrie, bevor er an der
Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg Oberarzt wurde und 1997 nach
Ulm ging. Sein mit über 100 Publikationen umfangreiches wissenschaftliches Werk
wurde 1992 mit dem DGPN-Duphar-Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie und Nervenheilkunde ausgezeichnet.
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Das Gehirn. Eine Gebrauchsanleitung"
Wir wissen, wie wir uns am besten ernähren, wie unser Muskelaufbau funktioniert
und wie viel Schlaf uns gut tut. Doch über eines unser wichtigsten Organe, das
Gehirn, wissen wir erstaunlich wenig - dabei würde uns das helfen, ein besseres
Leben zu führen. Was also lehrt uns die Neurobiologie über die Funktionsweise
unseres Gehirns? Und was bringen uns diese Erkenntnisse für unseren Alltag?
Unterhaltsam und fundiert nimmt Manfred Spitzer die zentralen Themen des Lebens
unter die neurowissenschaftliche Lupe: vom Geschlechterverhältnis bis hin zum
Altern, von der Liebe bis hin zur Angst, vom Unterbewusstsein bis hin zum
Lernen. Sein Erfolgskonzept, das bei seinen zahlreichen Vorträgen in ganz
Deutschland bis zu 7000 Leute zu den Veranstaltungsorten lockt: Er lässt die
Menschen ganz unmittelbar an den neuesten Forschungsergebnissen der
Neurowissenschaften teilhaben und schafft es, sein scheinbar schwieriges
Fachgebiet auf anregende und faszinierende Art und Weise zu vermitteln.
(Rowohlt)
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"Digitale Demenz"
zur Rezension ...
Noch ein Buchtipp:
André Aleman: "Wenn das Gehirn älter wird. Was uns ängstigt. Was wir wissen. Was
wir tun können"
Unser Gehirn leistet Erstaunliches, und das sehr lange. Wohltuend unaufgeregt
und klar verständlich erklärt der holländische Neuropsychologe André Aleman, was
in unserem Gehirn passiert, wenn wir älter werden. Er erläutert nicht nur,
welche Anzeichen wirklich auf Alzheimer hinweisen, sondern auch, was wir tun
können, um die fabelhaften Fähigkeiten unseres Gehirns auf jeder
Entwicklungsstufe zu nutzen.
Wir alle machen uns von Zeit zu Zeit Sorgen um die Funktionstüchtigkeit unseres
Gedächtnisses und unseres Verstandes, insbesondere mit Überschreiten des 50.
Lebensjahres. Aleman kann zeigen, dass der Rückgang unserer Gehirnleistungen
früher beginnt, als wir glauben, aber dass dies auch weniger schlimm ist, als
wir befürchten. Während einige mentale Funktionen wie etwa die
Denkgeschwindigkeit und die Konzentrationsfähigkeit nachweislich abnehmen,
bleiben andere, darunter das Weltwissen und der Wortschatz, unangetastet oder
verbessern sich sogar. Ein älteres Gehirn ist auch besser darin, Stress zu
verkraften und mit komplexen Situationen zurechtzukommen, als ein junges. Das
mit vielen Fallgeschichten und überzeugenden Beispielen aufwartende Buch
schließt mit einem Fünf-Punkte-Plan, um beim Älterwerden die Leistungsfähigkeit
des Gehirns zu erhalten: Ernährung, Bewegung, Herausforderungen, Offenheit für
Neues und nicht zuletzt Liebe. (C.H. Beck)
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