Katrin Stepath: "Gegenwartskonzepte"

Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen


Zeiterfahrung

Eine Doktorarbeit mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert - "Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen" (Untertitel) - eben ein Buch, welches uns endlich die Frage beantworten möchte: was ist Gegenwart?! "Keine Zeit!" - ist eine der häufigsten Bemerkungen im zwischenmenschlichen Dialog - Zeit ist das, was wir nicht haben, wozu also darüber reden? Überdies ist die Gegenwart die kürzeste Zeitspanne, die es gibt - ehe sie einem bewusst werden kann, ist sie doch schon wieder vorbei. Das ist doch das Paradoxe: wir leben eigentlich in der Gegenwart, befinden uns aber ständig an der Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft. Wir verwenden gerne die Formulierung "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" - womit wir eigentlich etwas sehr Flüchtiges, also Unzuverlässiges benennen. Und eigentlich bräuchten wir viel mehr Zeit, um die Zeit bewusst zu erleben.

Die vorliegende Arbeit möchte philosophische und literarische Gegenwarts-Konzepte analysieren und die Ergebnisse nutzbar machen für die literaturwissenschaftliche Analyse zeitlicher Strukturen in literarischen Texten. Im Kern geht es also um die Fragestellung: "Welchen Erkenntnisgewinn kann die Analyse von Gegenwartskonzepten in literarischen Texten bieten?"

Zeit ist für uns nur gleichzeitig (!) mit Raum wahrnehmbar - und Zeit wird von uns chronologisch empfunden und gemessen. Dazu hat Albert Einstein gesagt: "Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige." Diese Dreiteilung der Zeit geht zurück auf Homer - und Aristoteles definierte Zeit als messbare Größe hinsichtlich des Davor und Danach. Die ständige Umwandlung von Zukunft in Vergangenheit wird nach Stepaths Ansicht am besten mit dem Futur II zum Ausdruck gebracht: wird gewesen sein. Die Dauer des Jetzt wird von der Kognitionspsychologie untersucht. Danach setzt sich Gegenwart aus identifizierten Ereignissen bzw. Erlebnissen zusammen, deren Kondensationskern die Gleichzeitigkeit ist. Gegenwart ist die Voraussetzung der Wahrnehmung bzw. etwas als wahrgenommen zu interpretieren. In der vorliegenden Arbeit wird die Gegenwart nach Spannweite, Struktur, Inhalt und Konzept betrachtet.

Stepath betrachtet "Philosophische Konzepte von Gegenwart" schwerpunktmäßig bei vier Philosophen: Henri Bergson, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Hermann Schmitz. Für Bergson ist Zeit reine Dauer (die wir aus praktischen Gründen einteilen); Gegenwart ist für ihn ein Bewusstseinsphänomen in fließender Mannigfaltigkeit - die Quelle der menschlichen Freiheit zur kreativen Lebensgestaltung. Husserl erweitert die Wahrnehmung der Gegenwart um die Erinnerung (der Vergangenheit) und die Erwartung (der Zukunft), wobei das Bewusstsein den Zusammenhang herstellt. Bei Heidegger dient Gegenwart zur Verknüpfung von Sein und Zeit. Stepath versucht sehr beflissen, Differenzierungen und Gemeinsamkeiten dieser drei Ansätze herauszuarbeiten, ehe sie auf Hermann Schmitz kommt, für den Gegenwart ein "Hier, Jetzt, Ich, Wirklichkeit, Dieses" ist - ein komplexes Gefüge oszillierender Bewusstseinsperspektiven.

Im Kapitel "Literarische Gegenwartskonzepte" unterscheidet Stepath "andauernde", "erfüllte" und "multiple" Gegenwart, was bedeuten soll: Ewigkeit, Augenblick bzw. Kombination und Konkurrenz unterschiedlicher Gegenwarten. So nötig diese Pluralbildung für die literarische Beschreibung sein mag - so sehr macht sie uns freilich den Ursinn einer jeweils einmaligen Gegenwart kaputt. Oder es wird durch parallele alternative Gegenwarten das Konzept der einen wahren Gegenwart in Frage gestellt. Bei Proust und Joyce entsteht z.B. der Eindruck der Simultaneität von Vergangenem und Gegenwärtigem. Paul De Man spricht von einer "Rhetorik der Zeitlichkeit" und verweist darauf, dass Zeit in der Literatur frei gestaltet werden kann - etwa in der Form der Zeitraffung oder Zeitdehnung. Die Literatur hat also im Unterschied zum täglichen Leben die Möglichkeit, mit der Zeit zu spielen!

Stepath erkennt sehr richtig, dass unser Verständnis von der Welt durch Interpretation von Zusammenhängen entsteht. Und so gibt es unterschiedliche Gegenwarts-Konzepte bzw. Möglichkeiten, Gegenwart literarisch zu inszenieren - bzw. eben sogar "Literarische Techniken zur Zeitvervielfältigung"! Allerdings geht es ja im Grunde um die kausale Motivierung des Geschehens und die "finale Sinnstiftung als Horizont alltäglichen Weltverstehens" beim literarischen "Oszillieren zwischen finaler Geborgenheit und kausaler Berechenbarkeit" - und da wird das Erzählen übrigens paradox. Die Literatur stellt einige Ereignisse ausführlicher und andere nur vage dar, während unsere Wahrnehmung sozusagen auf Vollständigkeit programmiert ist. In der Literatur hängt wohl die Zeitinterpretation zusammen mit der Frage des Ausgangs. Die Zeitgestaltung wird von vielen Literaturwissenschaftlern als konstitutiv erachtet - wobei doch eher der Gedankeninhalt zählen sollte, egal in welcher Zeitkonstellation er offenbart wurde!

Im letzten Teil des Buches "Literarische Inszenierung multipler Gegenwartskonzepte" werden Werke von Borges, Eich, Cheever und Perutz penibel untersucht. Die Autorin erweist sich als äußerst belesen in philosophischen und literarischen Gefilden und platziert ihre Thesen und Beispiele recht effizient. Als Fazit ergibt sich, dass es sich bei der Vorstellung von Zeit bzw. Gegenwart um eine Abstraktion handelt und dass die Gegenwart in der Literatur häufig als bedrohlich dargestellt wird. Eine etwaige gewünschte Zeitaufhebung findet nur optional statt - als ein Mehr oder Weniger an Gegenwart.

Stepath geht es um "Zeiterfahrung", die sich in der Literatur als multipel erwiesen hat. Letztendlich bleibt aber als Erkenntnis das Ausgeliefertsein des Menschen an die Zeit in der Form des Alterns - egal ob man das philosophisch oder literarisch beschreibt. Ein ausführliches Literaturverzeichnis könnte zu noch mehr Zeitaufwand verführen - wobei man das Gefühl nicht los wird, dass hier viel zu kompliziert über etwas geredet wird, was man ganz schlicht in jeder Sekunde realisiert: die Zeit ist im intellektuellen Sinn eigentlich nicht unser Problem, sondern die Wahrnehmung.

(KS; 06/2006)


Katrin Stepath: "Gegenwartskonzepte"
Verlag Königshausen & Neumann, 2006. 267 Seiten.
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Katrin Stepath studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Germanistik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Sie wurde dort 2005 mit dieser von der Friedrich-Naumann-Stiftung geförderten Arbeit im Fach Philosophie promoviert. Seit 2005 ist sie Referendarin an einem Gymnasium in Schleswig-Holstein.