Peggy Fiebich: "Gefährten im Unglück"
Die Protagonisten narrativer Texte von E.T.A. Hoffmann sowie von Novalis, Goethe und Kleist
Der
Mensch als Zwischenwesen
In der Reihe 'Würzburger Wissenschaftliche Schriften' werden
hier als Abdruck einer Dissertation 'Die Protagonisten narrativer Texte
von E.T.A.
Hoffmann sowie von Novalis, Goethe und Kleist' (Untertitel)
vorgeführt, um die Reaktion erzählender Literatur um
1800 "auf den zunehmend als problematisch erfahrenen Widerspruch
zwischen geistiger Freiheit und Individualität des Menschen
und seiner Bedingtheit durch Natur und Gesellschaft" (vgl. Klappentext)
zu illustrieren. Die vorliegende Arbeit widmet sich "dem
literaturgeschichtlichen Ort Hoffmans, der Aktualität seines
Werks und der sich in ihm ausdrückenden Position zur Frage der
Dualität (...) indem sie in vergleichenden Interpretationen
eine Konstellation narrativer Texte von Novalis, Goethe und Kleist um
Erzählungen Hoffmans herstellt und untersucht."
Fiebich hat die Grundthese: Hoffmann thematisiert "die Spannung, in der
sich der Mensch als aktiv, frei und eigenverantwortlich handelndes
Individuum mit Zugang zum Reich der Ideen einerseits und als
äußeren und inneren Zwängen unterworfenes,
in der materiellen Wirklichkeit befangenes Wesen andererseits
befindet." Indem Fiebich ihre umfangreiche Kenntnis der infrage
kommenden Sekundärliteratur dokumentiert, versucht sie, ihren
eigenen Ansatz herauszukristallisieren. Intendiert ist
schließlich der konkrete Vergleich dreier Prosatexte Hoffmans
mit Erzähltexten dreier anderer offenbar geistesverwandter
Autoren.
Den ersten Vergleich versucht Fiebich zwischen Hoffmanns 'Der Kampf der
Sänger' und 'Heinrich von Ofterdingen' von Novalis.
Für diesen verbinden sich Philosophie und Poesie im Roman, ein
praktizierendes Ich existiert für ihn, "weil es handelt." Und
dieses tätige Ich hat teil am Absoluten: "Der
Künstler ist durchaus transcendental." In der Poesie
vereinigen sich Kunst,
Natur und Transzendenz - das magische Poeten-Ich
nähert sich eben unweigerlich dem Absoluten. Die
äußere objektive Welt ist durch die Poesie nicht
unmittelbar verwandelbar, aber letztere kann "Veränderung im
Inneren des Menschen bewirken."!
Hoffmann und Novalis bearbeiten beide den Sängerkrieg - ein
Stoff mit Beziehung zum Überirdischen - die Poesie
enthält magische Kräfte. Gemeinsam ist beiden Texten
die Thematisierung der Kunst in ihrer Beziehung zu Immanenz und
Transzendenz. Die Poesie ist das Mittel, die gemeine Wirklichkeit zu
überschreiten! Der Rezipient soll "die romantisierte Welt mit
seiner gewohnten Welt zur Synthese bringen und dabei unendlich
erweitert werden." Fiebich resümiert: "Beide Texte sind in
hohem Maß autoreflexiv und transzendental poetisch, sie
thematisieren die Bedingungen der Möglichkeit von Literatur."
Die Spannung zwischen poetischer und realer Welt wird versuchsweise
aufgelöst durch Transzendierung oder Ironisierung.
In ihrem zweiten Hauptblock vergleicht Fiebich 'Das Gelübde'
von E.T.A. Hoffmann mit
Heinrich von
Kleists 'Die Marquise von O.' -
wobei erstere eher eine Schicksals-, zweitere eher eine
Charakternovelle ist. Nach Fiebichs Auffassung streben beide Heldinnen
- Hermenegilda und die Marquise - danach, "die schicksalshafte
Dualität des Menschen als Geist- und Naturwesen
aufzulösen, das Materielle durch das Geistig-Transzendentale
zu überwinden." Dabei stellt sich heraus, dass weder ein
übermächtiges Schicksal noch ein souveränes
Subjekt allein dominieren.
Beim Vergleich der beiden Kunstmärchen 'Der neue Paris' von
Goethe und
'Der
goldene Topf' von Hoffmann zeigt sich eine starke
Ähnlichkeit der Handlung. Beide Male erlösen die
Protagonisten sozusagen das Schöne aus einem magischen Bann
und begeben sich auf den Weg zu einer Existenz als Künstler.
Dabei ergibt sich die Konfrontation der inneren und
äußeren Wahrnehmung. Es wird deutlich, dass es das
Ziel der literarischen Kommunikation ist, im Fremden das Eigene zu
wiederfinden.
Alle Texte behandeln auf ihre Weise das dualistische
Verhältnis von Geist und Materie und problematisieren das
Subjekt in seiner Identität als psychophysisches Wesen im
Spannungsfeld natürlicher und
übernatürlicher Korrelationen. Der Mensch ist ja
eigentlich ein Zwischenwesen - zwischen immanenter und transzendenter
Existenz bzw. deren Interpretation. Darüberhinaus erweist sich
die Existenzweise des Künstlers im Unterschied zum
"Normalbürger" als Verknüpfung immanenter und
transzendenter Bewusstseinsströme. Die Kunst erlangt eine
Offenbarung, welche sinnlich und übersinnlich aufgefasst
werden kann. Die Überschreitung der Grenze zwischen Geist und
Materie ist überhaupt das spannende Thema - doch bleibt
folgende Erkenntnis für Fiebich entscheidend: "In Liebe,
Poesie und Naturerlebnis ist eine Transzendenz der sinnlich-rational
erfahrbaren Realität zwar möglich, doch bleibt sie an
diese Realität selbst gebunden." Genau in dieser
Dualität, in diesem Zwiespalt, in dieser absurdistischen
Unvereinbarkeit lavieren wir als Lebewesen generell und als
Künstler ganz speziell und schmerzhaft. Die Unvereinbarkeit
hoher Ideale mit den niederen Banalitäten lässt viele
Menschen zerbrechen - v.a. sensible Künstlernaturen. Der
Wahnsinn jedenfalls kann nicht der Ausweg sein - zwar weiß
man gar nicht so genau, wie "glücklich" der Wahnsinnige
tatsächlich ist, aber man registriert doch seine restriktive
"Behandlung" durch "normalbürgerliche" Instanzen. Bleibt als
Erkenntnis, dass es eine materielle Freiheit nicht geben kann - und die
geistige Freiheit in stets wechselnden Varianten unnachgiebig
erkämpft werden muss.
In unserem Verhältnis zur Welt entsteht Harmonie aus Konflikt
und umgekehrt. Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen
Realität und Fantasie / Utopie / Transzendenz könnte
zur Resignation führen - oder als Herausforderung verstanden
werden, die Welt in ihrer vordergründigen
Primitivität nicht zu akzeptieren. Die Frage bleibt, inwiefern
dieser existenzielle Antagonismus zumindest ästhetisch
überwindbar erscheint. Womöglich sollen wir aus dem
vorliegenden Buch lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Jedenfalls hat Peggy Fiebich hier solch eine
ungeheuerlich akribische Detailarbeit vorgelegt, dass wahrscheinlich
nur Experten durch die zahlreichen Penibilitäten durchsteigen
werden - somit ist dies ein "elitäres" Buch, weil der
"Normalbürger" gar nicht realisiert, welche existenzielle
Problematik ihn eigentlich umtreiben sollte.
(KS; 08/2007)
Peggy
Fiebich: "Gefährten im Unglück"
Königshausen & Neumann, 2007. 420 Seiten.
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