Théophile Gautier: "Jettatura"
Jettatura, ein neapolitanischer
Volksglaube
Jettatura oder Jettatore, darunter versteht man einen
Menschen, der mit dem bösen Blick behaftet ist, oftmals, ohne dies selbst auch
nur zu ahnen. Ein Volksglaube, der vor allem im südlichen Italien beheimatet ist
und wo er auch heutzutage noch gläubige Anhänger findet. Gautier selbst glaubte
an die Macht der Jettatura und fürchtete den bösen Blick, wie seine Tochter nach
seinem Tod glaubhaft versichert hat. Und um den bösen Blick zu bannen, trug er
stets kleine Korallenkettchen als Gegenzauber.
Diese Novelle über den
Jettatore Paul d'Aspremont hat also einen durchaus ernstlichen Hintergrund. Die
Protagonisten sind hin und her gerissen zwischen Aberglauben und Rationalismus,
was wahrscheinlich auch Gautiers persönliche Haltung widerspiegelt. Ist die
Totenblässe der hübschen Alicia Ward nun verursacht durch einen unbewussten,
tief nagenden Kummer, durch eine Krankheit wie beispielsweise die Schwindsucht,
oder durch den verderblichen Einfluss eines Jettatore? Nur Alicia selber
verschließt sich hartnäckig solch abergläubischen Vorstellungen, mit
fatalistischer Gelassenheit begegnet sie ihrem Schicksal.
Es gibt nicht
viele Autoren auf dem Gebiet der phantastischen Literatur, die sich dieses
Themas angenommen haben, Holger Fock führt in seinem Nachwort die wichtigsten
auf, darunter ist Théophile Gautiers "Jettatura" wohl die bekannteste Erzählung.
Aber auch zu anderen Motiven der phantastischen Literatur hat der Vielschreiber,
der literarische Akkordarbeiter Gautier einige bemerkenswerte Beiträge geliefert
wie beispielsweise zum
Vampirismus oder zum Seelentausch. Der Phantastik-Experte
Rainer A. Zondergeld bezeichnete Gautiers 1836 erschienene Vampirgeschichte "La
morte amoureuse" als die erste wirklich überzeugende Vampirgeschichte der
Weltliteratur.
Überzeugend ist auch diese Geschichte, überzeugend wie
eigentlich alle Werke Gautiers durch den überlegen gestalterischen Atem seines
Fabulierens. Gautier beherrschte die hohe Schule der Erzählkunst und schuf mit
"Jettatura" auch eine formal vollendete Novelle. Mit unfehlbarer Sicherheit
meistert er sowohl Form als auch Sprache, wobei der Gedanke des Schönen bei ihm
absolute Priorität genießt. Die Schönheit für sich und um ihrer selbst willen
war für Gautier Hauptkriterium seines Schaffens. Er fragte nicht danach, ob ein
Vers belehrend ist, ob er nun im richtigen Versmaß steht, irgendwelchen Regeln
genügt oder sonst etwas. Auf diesen Punkt angesprochen, hat er einmal geäußert:
"Was soll das? Es soll schön sein. Ist das nicht genug?" In seinem wohl
bekanntesten Roman "Mademoiselle de Maupin" (1835) beschreibt Gautier einen
Künstler, der selbst seine Moral der Schönheit opfert.
Gautier selbst hat
ähnlich wie E.T.A.
Hoffmann, der einen starken Einfluss auf ihn ausgeübt hat, zwischen seiner
Berufung als Künstler und der als Dichter geschwankt. Sein literarischer Stil
ist der Stil eines Malers, was in seiner Novelle "Jettatura" besonders deutlich
wird. Seinem mikroskopisch-analytischen Blick entgeht nicht das kleinste Detail,
mit fotografischer Schärfe vermag er seine Personen zu belichten, und jedem
Detail vermag er seinen spezifischen Reiz zu geben. Eine fast pedantische
Präzision kann man ihm zubilligen. Und hier setzt ihm der von ihm selbst
gewählte Stil des Malers auch Grenzen, er läuft Gefahr, im bloßen Beschreiben
stecken zu bleiben, im Reproduzieren von Personen und Dingen durch das Medium
Wort. Manchmal habe ich diesen Eindruck bei Gautier. Dann wäre da noch all das
assoziative kunst- und musiktheoretische oder geschichtliche Beiwerk, mit dem er
seine Texte anreichert, das auch zuweilen den Eindruck des Überflüssigen
hervorrufen kann und das vom Leser ja auch verstanden und eingeordnet werden
will. Nicht umsonst sind von den 224 Seiten dieser Ausgabe allein zwanzig Seiten
Anmerkungen. Auch in seinem ausführlichen Nachwort gibt der Übersetzer Holger
Fock weitere wertvolle Erläuterungen zu Gautiers Leben und Schaffen allgemein
sowie zu dem hier vorliegenden Werk im Besonderen.
Die Ironie, die
"Jettatura" innewohnt, sollte noch Erwähnung finden, ein dezenter ironischer,
für Gautier typischer Oberton, den auch
Flaubert,
Balzac und Baudelaire schon zu
schätzen wussten, schwingt immer leise mit. Im Schlusskapitel schwingt sich
dieser ironische Ton schließlich bis zur Groteske auf. Es handelt sich um ein
überzeugend gestaltetes Crescendo der Spannung auf den Kulminationspunkt im
Schlusskapitel hin, wo neben grotesken Elementen auch noch Elemente des
Schauerromans zum Tragen kommen.
(Werner Fletcher; 03/2006)
Théophile Gautier:
"Jettatura"
(Originaltitel "Jettatura")
Aus dem Französischen
übersetzt sowie mit Anmerkungen
und einem Nachwort versehen von Holger
Fock.
Dörlemann Verlag, 2006. 224 Seiten.
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Der Dichter und Kunstkritiker Théophile
Gautier wurde am 30. August 1811 in Tarbes geboren; er starb am 23. Oktober
1872.
Zwei weitere Buchtipps:
Théophile Gautier: "Romane und
Erzählungen"
Hrsg. und eingeleitet von Prof. Dr. Dolf Oehler.
Charles
Baudelaire nannte Théophile Gautier einen "vollendeten Magier der französischen
Literatur" ("Fleurs du Mal"). Der Exotismus seiner Romane und Novellen, die
kühnen Konzeptionen, seine Sprachgewalt und die unerschöpfliche Fantasie
bezaubern den Leser heute wie damals. Er ist ein wahrer Meister der Erzählkunst,
der unendliches Vergnügen bereitet. (Marixverlag).
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