Neil Gaiman: "Niemalsland"

Der gutmütige Richard kommt einem Mädchen zu Hilfe und verliert dadurch seine Identität - niemand kennt ihn mehr. Als naiver Held wider Willen steigt er hinab nach Unter-London, eine Parallelwelt in U-Bahnhöfen und Kellern, und muss dort die haarsträubendsten Abenteuer bestehen.


Richard Mayhew ist ein einfacher junger Mann ohne besondere Eigenschaften und Fähigkeiten. Aus einem kleinen Dorf in Schottland stammend, arbeitet er nun in einer Londoner Versicherungsfirma und ist zu seiner eigenen Überraschung mit der sehr attraktiven und dominierenden Jessica verlobt, die ihn regelmäßig durch irgendwelche Ausstellungen und Museen schleift. Er führt ein überaus ereignisfreies Leben und hat die Wahrsagung einer alten Dame, der er in einem heftigen Regen einen Schirm geschenkt hat, bevor er Schottland verließ, schon ganz vergessen. In dieser Wahrsagung wurde ihm gesagt, dass er sich vor Türen hüten müsse.

Eines Tages, als er mit Jessica zu einem wichtigen Essen mit ihrem Boss unterwegs ist, stolpert er im wahrsten Sinne des Wortes über eine schwer verletzte junge Frau, und trotz Jessicas Ermahnung beschließt er, der jungen Frau zu helfen und das Essen mit dem wichtigen Mann fahren zu lassen. Dies führt innerhalb der nächsten zwölf Stunden zur Auflösung ihrer Verlobung. Doch das ist Richard zu diesem Zeitpunkt eigentlich ziemlich egal, denn in dieser Zeit hat er bereits mit einigen Ratten gesprochen, einen seltsamen Obdachlosen für seinen Gast ausfindig gemacht, der sich als Marquis erweist, und ist am nächsten Morgen von einem Herrn Croup und einem Herrn Vandermar besucht worden, die die junge Dame - deren Name bezeichnenderweise Door (Tür - Prophezeiung!) ist - dringend gesucht haben, und hat einige überaus spannende Alpträume gehabt. Als der Marquis und Door endlich aus seiner Wohnung verschwunden sind, ist Richard fast erleichtert, sein übliches langweiliges Leben wieder aufzunehmen.

Doch das erweist sich als gar nicht so einfach, denn in seinem normalen Leben scheint er gar nicht mehr zu existieren. Der Bankautomat erkennt ihn und seine Bankkarte nicht mehr, in der U-Bahn wird er weder von den Kartenautomaten noch von den Verkäufern registriert, und auch an seinem Arbeitsplatz scheint er nicht mehr vorhanden zu sein. Als er in seiner Wohnung in der Wanne sitzt, kommt ein Makler mit einigen Interessenten herein, um die Wohnung weiter zu vermieten, und der badende Richard wird von den drei Leuten gar nicht wahrgenommen. Verzweifelt begibt sich der "Unsichtbare" daraufhin in die Welt unterhalb der Stadt London, um Door und den Marquis wieder zu finden, damit die ihm aus seinem seltsamen Zustand heraus helfen. Doch der Weg zu den beiden ist schwierig. Zunächst muss sich Richard mit einem mit Ratten sprechenden Volk auseinander setzen, bevor er über eine gefährliche Brücke zu einem "Treibenden Markt" kommt, auf dem Door während einer Art Auktion einen Bodyguard sucht. Dabei lernt er einige weitere überaus seltsame Gestalten und Figuren kennen und verliert die erste wirkliche Freundin, die er sich in dieser unglaublichen Unterwelt gemacht hat.

Door und der Marquis können Richard nur sagen, dass er offensichtlich durch einen Riss in der Realität gefallen sei und nun nicht mehr in sein eigentliches Leben zurück könne, und dass ihnen dies sehr Leid tue, sie aber Wichtigeres zu tun hätten, wie etwa die Mörder von Doors Familie zu finden. Auch dafür brauchen sie einen Leibwächter, den sie schließlich in der legendären Hunter finden. In Ermangelung von Alternativen schließt sich Richard den drei Abenteurern an und erlebt in den nächsten 48 Stunden alles, was man von einem Fantasy-Abenteuer erwarten darf: Seltsame Treffen, gefährliche Monster, Begegnungen mit einem echten Engel, einen Einbruch in das Britische Museum, ein Treffen mit einem Earl in einem U-Bahn-Wagen, eine lebensgefährliche attraktive Frau, Leute, die von den Toten auferstehen, komische Mönche und gefährliche Prüfungen zum Erringen eines wichtigen Preises. Und die Welt unterhalb von London findet er immer normaler, so dass seine letztendliche Rückkehr in die Oberwelt ihm extrem unbefriedigend erscheinen muss.

Gut erzählt und ein wunderbares Märchen für Erwachsene in der Tradition der "Messerkönigin", "American Gods" und "Sternwanderer", ist dies eine Freude für jeden, der das Kind in sich noch nicht ganz abgetötet hat.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2003)


Neil Gaiman: "Niemalsland"
(Originaltitel "Neverwhere")
Übersetzt aus dem Englischen von Tina Hohl.
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