Neil Gaiman: "American Gods"
Die Götterdämmerung als literarisches road movie
Drei lange Jahre saß Shadow im
Gefängnis ab. Als er endlich aus dem Kittchen entlassen wird, muss er erfahren,
dass seine Frau Laura bei einem Autounfall auf recht frivole Weise ihr Leben
ließ. Im Flugzeug Richtung seines nun trostlosen Zuhauses erhält der Witwer von
einem sonderbaren hünenhaften Mann das Angebot, ihm als sein Helfer mit noch
unbekanntem Auftrag zu folgen. Ein gar seltsamer Typ mit Glasauge, den Shadow
bald darauf in einer Bar wiedertreffen sollte - Wednesday ist sein Name.
Widerwillig willigt Shadow in den Vorschlag des grimmigen Hünen ein - und nun
nimmt "American Gods", ein Buch, das eigentlich den Charakter eines road
movies hat, seinen Lauf.
Sonderbare Leutchen finden sich auf der Fahrt durch das amerikanische Herzland,
dem Mittelwesten, einer Aneinanderreihung eher monotoner Bundesstaaten, die
sonst kaum Vorlage für literarische Bestleistungen sind. Doch was Neil Gaiman,
Autor des genialen
"Niemalsland",
von Minnesota bis Kansas und Tennessee auf den Plan treten lässt, ist nicht
nur amüsant, sondern auch sehr philosophisch. Verpackt in ein turbulentes Crossover
aus Edda, Fantasy und Detektivgeschichte geht er der Frage
nach: Was macht das eigentliche Wesen Amerikas aus? Ist es das Land in seiner
Majestät an sich, egal ob oder von welchen Menschen besiedelt? Ist es die bunte
kollektive Tradition der einzelnen Einwanderkulturen mit ihrem reichen Pantheon?
Oder muss in der Moderne, in der Gläubigkeit an technologischen Fortschritt
und massenmedialer Hysterie nach dem Leitbild gesucht werden?
Unvereinbare Glaubenssysteme von Alt und Neu
prallen aufeinander. Ein Sturm braust heran, eine Götterdämmerung zieht herauf.
Und Shadow fällt eine tragende Rolle in diesem gigantischen Konflikt zwischen
Tradition und Gegenwart zu. Er ist der Spielball, aber auch Auserwählte, die
Zukunft in diese oder jene Richtung zu lenken - oder in ihr gar einen dritten
Weg zu zeigen. Allerlei Götter, Göttinnen und Götzen kreuzen seinen Weg auf
seiner Odyssee durch Amerikas geografisches wie metaphorisches Herz. Liebe und
Verrat findet er ebenso wie Sieg, Niederlage oder Tod und Wiederauferstehung.
Shadow wird selbst zu einer Art Halbgott, wenngleich auch ungewollt und mit
allen irdischen Makeln behaftet.
Nietzsche postulierte
"Gott ist tot".
In "American Gods" wird diese philosophisch-metaphysische Sicht verfeinert,
indem, dass Götter solange leben, solange der Glauben der Menschen an sie bestehe.
Dadurch sind sie gleichermaßen sterblich wie unauslöschlich, da sie in der einen
Vorstellungsform verschwinden und in anderer erneut wie
Phönix
aus der Asche emporsteigen. Wednesday und sein dubioser Gegenpart Mr. World
wollen diesem Gesetz durch Shadow ein Schnippchen schlagen. Laura, Shadows "anders
toter" Frau, kommt dabei die Rolle der dea ex machina zu, die immer dann zur
Stelle ist, wenn es eng für ihren "anders lebendigen" Gemahl wird. Der Showdown
des Buches im hinterwäldlerischen Rock City nimmt eine überraschende Wendung.
Und selbst nach dem eigentlichen Ende des zentralen Erzählungsstranges zeugen
weitere gelungene Handlungsfäden von Gaimans Talent als Autor.
Englischsprachige Menschen haben bei der Enttarnung des
Göttervaters von Anfang an einen Vorteil, denn Wednesday steht nicht nur
vordergründig für Mittwoch, sondern wortgemäß für "Wotanstag". Aber Achtung: bei
Asen und ihren Manifestationen ist nichts eindeutig. Wednesday, Wotan und Odin
sind zwar eins, deshalb noch lange nicht dieselben. Alles klar? Wenn nicht,
fahren Sie nach Island.
Nach einem oder mehreren Drinks steht der All-Vater für ein klärendes Wort
möglicherweise selbst nebst Ihnen an der Theke ...
(lostlobo; 03/2004)
Neil Gaiman: "American Gods"
Aus dem Englischen von Karsten Singelmann.
Heyne, 2003. 600 Seiten.
ISBN 3-453-87422-6.
ca. EUR 24,-.
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