James Lovelock: "Gaias Rache"
Warum die Erde sich wehrt
Steuern
wir ungebremst in die
Klimakatastrophe?
Wir alle sind Teil einer großen, vielfältigen, sich
selbst regulierenden und
in gewissem Sinne auch lebendigen Entität: des Planeten
Erde.
Und nichts ist
irreführender als die Vorstellung von einem Raumschiff namens
Erde, an dessen
Bord wir - jahraus, jahrein - um die Sonne kreisen. Dies jedenfalls ist
der
Standpunkt James Lovelocks, eines Vordenkers der Umweltbewegung, und
aus der von
ihm gewonnenen Erkenntnis schlussfolgert er: Wir
müssen als erstes um das
Wohlergehen der Erde bedacht sein und uns nicht in erster Linie um das
Heil der
Menschen kümmern. Auf den Namen Gaia, einer griechischen
Göttin, tauften
Lovelock und der ihm befreundete Schriftsteller William Golding diese
sich
selbst regulierende Entität, und dazu gehört neben
dem Leben auch die
physikalische Umwelt, in der sich dieses Leben entwickeln konnte. Und
nun ist
Gaia in Gefahr. Eine lebensfeindliche Hitzeperiode bedroht uns Menschen
und die
meisten anderen Lebensformen auf dieser Erde. Lovelock benutzt dazu die
Metapher
eines Fieberkranken, so wie er überhaupt Gaia allzu gerne
personifiziert und
bisweilen auch
ins
Mystische überhöht, was oft
übertrieben und mitunter auch
etwas lächerlich oder naiv anmutet. Aber unbestritten ist,
dass es schlecht
steht um den Patienten Gaia, sehr schlecht sogar, denn die
Maßnahmen, die zur
Rettung einer weiterhin bewohnbaren Erde ergriffen werden, die sind
bestenfalls
halbherzig. Und im
Abkommen
von Kyoto
sieht James Lovelock eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem
Münchener Abkommen
vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Welt tut nichts und spielt nur auf Zeit.
Doch wir
haben keine Zeit mehr, möglicherweise ist es ohnehin schon zu
spät, um
wirksame Gegenmaßnahmen gegen die globale Erwärmung
einzuleiten.
Wahrscheinlich können wir nur noch Ausmaß und Tempo
der Katastrophe
beeinflussen, sie aber nicht mehr verhindern.
Mit großer Sachkenntnis geht der Autor den Ursachen der
drohenden
Klimakatastrophe auf den Grund, erläutert die Mechanismen,
nach denen die
Selbstregulierung Gaias funktioniert und gibt Ratschläge, wie
der Gefahr
eventuell noch wirksam begegnet werden könnte. Dies wird
allerdings ein
schwieriges Unterfangen, denn die Welt ist wohl komplizierter und die
Natur
unvorhersehbarer, als wir bislang geglaubt haben, und die Gefahr, in
der wir
schweben, die ist möglicherweise größer und
auch näher, als wir ahnen.
Dennoch sorgen wir uns häufig um banale oder sogar nur
imaginäre Risiken wie
Strahlen aus der Umwelt oder
Pestizide
in Nahrungsmitteln und sehen nicht das Leichentuch, das bereits
über uns
schwebt und unsere Zivilisation zu ersticken droht. So düster
sieht jedenfalls
James Lovelock unsere Zukunft.
Der Autor vertritt mitunter kontroverse, um nicht zu sagen radikale
Positionen
in seiner Argumentation. Vor allem sein leidenschaftliches
Plädoyer für die
Nutzung der Kernenergie wird vielen seiner grünen Mitstreiter
übel aufstoßen.
Lovelock sieht auch kein Allheilmittel in der Kernkraft, aber sie ist
seiner
Meinung nach die einzige Energieform, die uns heutzutage in
ausreichendem Maße
zur Verfügung steht, und Zeit, mit neuen Energiequellen zu
experimentieren,
haben wir nicht. Dagegen brandmarkt er das Errichten von Windkraftparks
als "organisierten
Vandalismus im Namen einer Ideologie". Noch drastischer mutet
die
Forderung an, die Landwirtschaft auf der Erde komplett einzustellen und
stattdessen synthetische Nahrungsmittel zu produzieren, denn wir
sollten der
Erde die Wälder,
ihre natürliche Vegetation,
zurückgeben, die wie auch die
Algen des Meeres oder das Eis an den Polarkappen der Erde als
Kühlmechanismus
dienen. Dann unterbreitet er auch noch den Vorschlag, wieder mit
Segelschiffen
über den Ozean zu reisen, anstatt mit Flugzeugabgasen unser
Klima weiter
aufzuheizen. Alles Dinge, die im Grunde überhaupt nicht
praktikabel sind,
selbst wenn sich die Lage noch so dramatisch entwickeln
sollte. Das Rad
des Fortschritts lässt sich wohl nicht mehr
zurückdrehen, seine Dynamik ist zu
stark geworden, um sich ihr zu widersetzen. Also laufen wir alle dem
Karren
hinterher, der uns unweigerlich ins Verderben zieht? Sollte Lovelock
mit seinen
düsteren Prognosen Recht behalten, dann leben wir in dem
Jahrhundert, in dem
Gaia zurückschlagen und sich rächen wird für
den an ihr begangenen Frevel.
Und neben den hinlänglich bekannten Untergangsszenarien
beschwört Lovelock
auch noch die Gefahren unvorhersehbarer Ereignisse, also noch
ungeahnter
Katastrophen, herauf.
Die möglichen Gegenmaßnahmen, die er zur Diskussion
stellt, wie zum Beispiel
das Installieren riesiger Spiegel im Weltall, erscheinen mir zum Teil
an den
Haaren herbeigezogen oder bestenfalls utopisch. In der
Zustandsbeschreibung der
Erde und der Einschätzung der Gefahr, die uns droht,
möchte ich James Lovelock
in den meisten Punkten zustimmen. Was mich etwas gestört hat,
das ist die ständige
Personifizierung Gaias, und zudem scheint mir auch einiges in seiner
Argumentation widersprüchlich. Auch der Titel seines Buches
behagt mir nicht
besonders. Aber interessant ist es allemal, auch provozierend,
vielleicht ein
wenig überzogen in seiner Schwarzmalerei,
was wir natürlich alle nur hoffen können. Auf die
Einsicht der Menschheit zu
setzen, vom einmal eingeschlagenen Weg der Bequemlichkeit und des
Fortschritts
abzuweichen, ist dagegen wohl zwecklos. Die Wirtschaftslokomotive nimmt
weiter
Dampf auf. Die große Party geht weiter. Und während
in den Börsentempeln und
in den zentralen Schaltstellen von
Wirtschaft
und Politik angesichts
der neuen
Wachstumsraten die Sektkorken knallen, braut sich draußen der
vielleicht
schwerste Klimasturm zusammen, den die Erde je erlebt hat.
(Werner Fletcher; 02/2007)
James
Lovelock: "Gaias Rache. Warum die
Erde sich wehrt"
(Originaltitel "The Revenge of Gaia")
Aus dem Englischen von Hartmut Schickert.
List Verlag, 2007. 254 Seiten.
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James
Lovelock ist "Honorary
Visiting Fellow" am Green College der Oxford University. Er hat viele
maßgebliche
wissenschaftliche Publikationen verfasst. Auf Deutsch sind von ihm
erschienen
"Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen" (1992), "Das Gaia-Prinzip. Die
Biografie unseres Planeten" (1993) und zusammen mit Fritjof Capra u.a.
"Der wissende Kosmos" (2001). James Lovelock gilt als einer der
einflussreichsten
Vertreter der Umweltbewegung.
James Lovelock starb am 26. Juli 2022 im englischen Abbotsbury.