Athol Fugard: "Tsotsi"
Das Schicksal von Büchern geht manches
Mal ungeahnte Wege. Athol Fugards einziger Roman "Tsotsi" wurde von ihm, dem
1932 in Südafrika geborenen Sohn eines englischen Händlers und einer burischen
Mutter, schon Anfang der 1960er Jahre geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war der
Autor nach einer langen Wanderzeit, unter anderem als Matrose, wieder in das
Südafrika der Apartheid zurückgekehrt und versuchte als Journalist, Schauspieler
und Stückeschreiber die Schönheit Südafrikas darzustellen, aber er schwieg auch
nicht über die Probleme seines Landes. Dieses Engagement bescherte ihm extreme
Schwierigkeiten mit der Apartheid-Regierung. Unter anderem wurde ihm für viele
Jahre der Reisepass entzogen, und erst 1980 durfte sein erster und einziger
Roman "Tsotsi" veröffentlicht werden.
Im Jahr 1982 erschien eine deutsche
Übersetzung bei Klett-Cotta, und dann wurde es still um dieses wunderbare Buch.
Vielleicht auch deshalb, weil angesichts der Brutalität der Probleme und der
Gewalt sein Hauptthema, die wunderbare Kraft der Versöhnung, gespeist aus dem
besten aller Gefühle, dem Mitgefühl, das im Anderen den Bruder und die Schwester
erkennt, nicht so in die politische Landschaft passte. Ich kann mich jedenfalls
nicht erinnern, jemals im Kontext auch kirchlicher und christlicher
Anti-Apartheid-Initiativen von diesem tiefsinnigen Buch gehört oder gelesen zu
haben.
Nun, da "Tsotsi" in der Verfilmung von Gavin Hood anno 2006 mit
dem "Oscar" in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" ausgezeichnet wurde,
legt Diogenes eine Taschenbuchausgabe jenes Romans aus den 1960er Jahren vor,
der dem in der Jetztzeit spielenden Film als literarische Vorlage und
Inspiration diente.
Tsotsi, im Slang der schwarzen Townships bedeutet das
so etwas wie "Gauner" oder "Bandit". Diesen Namen erhält der elternlose Junge,
als er sich einer Bande anschließt, deren Anführer er schnell wird.
"Und
Tsotsi wusste das alles ... er wusste auch, dass er zu all dem bestimmt war. Das
Leben hatte ihn nichts Anderes gelehrt. Dass er dies wusste, war für ihn nicht
mit Triumph oder Freude verbunden. Es war einfach seine Art zu leben, er fühlte
sich dabei so, wie Andere sich fühlen, wenn sie morgens die Sonne sehen. Die
großen Männer, und die anständigen auch, traten seinetwegen beiseite, er war es,
vor dem man sich ängstigte, er war es, dem der Hass galt. Seinetwegen war alles
so. Er wusste, dass er es war. Er war es, wusste er in diesem Moment, der die
Anderen zum Zug führte, um sich einen zu greifen."
So geht das fast jeden
Tag. Sie überfallen einen Menschen rauben ihn aus,
töten ihn. Vor einem hat
Tsotsi aber panische Angst. Niemand darf ihn nach seiner Vergangenheit fragen
und erst recht nicht nach seinen Gefühlen, aktuellen oder vergangenen. All das
hat er perfekt verdrängt, um als Kampfmaschine zu funktionieren und auf der
Straße zu überleben.
"Tsotsi hasste die Fragen aus einem ebenso einfachen
wie wesentlichen Grund. Er wusste darauf keine Antwort ... wusste weder seinen
Namen noch wie alt er war, noch überhaupt jene Antworten, aus denen sich eine
Person zusammensetzt und die ihr eine lebensähnliche Gestalt geben. Seine
Erinnerung reichte nur vage zurück zu einer Gruppe von Jungen, die den
Stadtbezirk nach allerlei durchstöberten, was sie zum Leben brauchten. Davor
noch ein paar undeutliche, eher gefühlte Erinnerungen an eine Polizeirazzia und
an sein Allensein. Tsotsi wusste nichts, weil ihm nie etwas erzählt worden war,
und hatte er irgendetwas gewusst, dann erinnerte er sich nicht mehr, und dieses
Nichtwissen hatte eine tiefere Bedeutung als sein Name und sein Alter. Seine
eigenen Augen waren vor einem Spiegel nicht imstande, die Augen, die Nase, den
Mund und das Kinn so zusammenzusetzen, dass daraus eine sinnvollen Person
entstand. Seine Gesichtszüge hatten in seinen Augen so wenig Sinn wie eine
Handvoll von draußen auf der Straße gesammelten Steinen. Er gestattete sich
keine Gedanken an sich selbst, er erinnerte sich keines Gestern, und das Morgen
existierte für ihn nur, wenn es gegenwärtig und lebendig war wie der Moment, den
er durchlebte. Er war so alt wie dieser Moment, und sein Name war auf eine
Weise der Name von allen Menschen."
Als nach einem weiteren Überfall der
Bande ein junger Mann getötet wird, fängt Butcher, ein Mitglied der Bande an,
Tsotsi Fragen zu stellen und spricht eine für Tsotsi schreckliche Prophezeiung
aus:
"Eines Tages wirst du was fühlen. Ja, Tsotsi. Eines Tages wird es soweit
sein. Und gnade dir Gott, wenn es dazu kommt, weil du dir dann nicht helfen
kannst. Weil du dann nicht wissen wirst, was du mit diesem Gefühl anfangen
sollst."
Tsotsi schlägt vor Wut Butcher, den sein eigenes Gewissen zu
diesen existenziellen Fragen getrieben hat, halbtot und verlässt die Bande. Doch
die Worte Butchers nagen an ihm, und in der Folge kehren die Erinnerungen
langsam und schmerzhaft zurück. Stark beeinflusst ist dieser Prozess der
Menschwerdung von einem Säugling (man beachte die tiefe Symbolik!), den eine
junge Frau Tsotsi nachts in die Arme legt, als er ihr auf einem Feld begegnet,
um danach spurlos und für immer zu verschwinden. Er versteckt das Kind und nennt
es David (so hieß er selbst als Kind, hat es aber vergessen), findet eine junge
Mutter, Miriam Ngidi, die das Kind stillt und betreut, wenn er es zu ihr bringt,
versöhnt sich mit Boston, einem anderen Mitglied der ehemaligen Bande, lernt
dessen Geschichte kennen und erinnert sich mehr und mehr an seine
eigene.
"Tsotsi" ist ein wundervoller Roman über die Überwindung von Hass
und Gewalt durch Versöhnung, ausgelöst durch das Mitgefühl mit anderen
Kreaturen. Ein Buch, das erfrischend einfach von Gott und von seiner
Menschwerdung spricht, das auch durch die Schilderung des Lebensschicksals von
Miriam Ngidi und Anderen ein Bild
vom schweren Schicksal der Schwarzen unter der
Apartheid zeichnet, das den Leser bis ins Innerste berührt und ihn zu seinen
eigenen Mitgefühlen zurückführt, ihn mit seiner eigenen, gottebenbildlichen
Menschlichkeit konfrontiert und ihn stumm auffordert, sie wie Tsotsi und Miriam
zu erkennen und zu leben.
"Tsotsi" endet tragisch. Kurz nachdem der
Protagonist zu seinem früheren Namen, David Madondo, zurückgefunden hat, und als
er das versteckte Kind David holen und gemeinsam mit Miriam großziehen will,
geschieht ein Unglück, geboren aus dem Unrecht des Systems, und ein neues
vaterloses Dasein beginnt für ein kleines
Menschenkind ...
(Winfried Stanzick; 04/2006)
Athol Fugard: "Tsotsi"
(Originaltitel "Tsotsi")
Diogenes, 2006. 336 Seiten.
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