"Zen-Buddhismus und Psychoanalyse"
von Erich Fromm,
Daisetz Teitaro Suzuki und Richard de Martino
Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein
dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine
Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben
bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.
(Erich Fromm)
Dieses Buch zum Thema Zen-Buddhismus habe ich insgesamt gewiss schon zehn Mal oder gar öfter gelesen, und doch kann es mich nach wie vor immer wieder aufs Neue faszinieren. Gleich vorweg, ich halte es für die gelungenste Einführung in die Spiritualität Asiens, insbesondere in die Welt des Zen. Der Buddhismus kennt keine Glaubensdogmen, wie wir sie vom Christentum her gewöhnt sind, und wer somit mit verschiedenen buddhistischen "Glaubensaussagen" seine Probleme hat, verkennt seine Lage grundsätzlich, weil im Buddhismus - insbesondere im Zen - einfach nicht geglaubt werden muss. Dass mir trotzdem nach gut zehnjähriger Befassung mit östlichen Kulten (primär mit dem Zen), diese letztlich doch fremd und unzugänglich blieben, ist wohl einerseits in meiner tiefen Verwurzelung in okzidentaler Rationalität begründet, als auch in der Einsicht, dass die Geschichte abendländischer Mystik im Grunde Vergleichbares zu bieten hat, das meinem christlich-abendländischen Denken darüber hinaus im Partiellen verwandter ist.
In diesem Zusammenhang ist vor allem der Mystiker Meister Eckhart (14. Jhdt.) zu nennen, dessen Thesen in der Bulle "In agro dominico" von Papst Johannes XXII. als teils häretisch und teils als "übel riechend" abqualifiziert wurden. Die römisch-katholische Kirche hatte mit ihm also einige Probleme, unter Zen-Buddhisten gilt Meister Eckhart hingegen heute als anerkannte Größe, als Meister des Zen. Warum sollte ich mich also exotischen Gerichten zuwenden, wenn heimische Kost ähnliche Gaumenfreuden zu bieten hat?
Drei Personen aus Ost und West schrieben an diesem Buch, wobei deren zwei, nämlich Daisetz Teitaro Suzuki (Professor an der amerikanischen Yale Universität) und Richard de Martino (Professor an der japanischen Universität in Kyoto) gleichermaßen in der westlichen wie in der östlichen Kultur zu Hause sind. Beide unterrichten Religionswissenschaften und Philosophie. Erich Fromm, Professor für Psychoanalyse an der Nationalen Universität von Mexiko Stadt, ist die Entstehung dieses Buches zu verdanken, welches auf eine Arbeitstagung über Zen-Buddhismus und Psychoanalyse zurückzuführen ist, deren Organisation und Leitung er innehatte. Zweck dieser Tagung war der Versuch, eine Brücke zwischen östlicher Religiosität und westlicher Wissenschaft zu schlagen und die Frage zu beantworten, welchen Wert die Begegnung von Zen-Buddhismus und Psychoanalyse haben könnte.
Der interessanteste Buchabschnitt war für mich immer gleich der erste, nämlich jener des Zen-Experten Daisetz Teitaro Suzuki. Anhand eines eingangs zitierten Gedichts des japanischen Dichters Basho (1644-1694) vergleicht er die Rationalitätsformen von Ost und West miteinander. Das Gedicht lautet folgendermaßen:
Yoku mireba
Nazuna hana saku
Kakine kana!
Wenn ich aufmerksam schaue,
Seh' ich die Nazuna
An der Hecke blühen!
Basho
pflückt die Blume nicht, er betrachtet sie nur. Er lässt ein Ausrufungszeichen
alles sagen. Im Vergleich dazu pflückt der westliche Dichter Tenneyson in ähnlicher
Situation die Blume, um sie seinem analytisch-sezierenden Verstand einzuverleiben.
Natürlich ist Tenneyson nicht typisch für alle westlichen Dichter - ein
Goethe
hätte die Blume vielleicht nicht gepflückt -, doch ist seine aktive und analytische
Annäherungsweise typisch für westliche Rationalität. Er will die Blume verstehen,
doch tötet er sie, indem er sie pflückt.
Suzuki resümiert: "Demnach ist der
westliche Geist analytisch, individualistisch, intellektuell, objektiv, wissenschaftlich,
verallgemeinernd, begrifflich, schematisch, unpersönlich, am Recht hängend, organisierend,
Macht ausübend, selbstbewusst, geneigt, anderen seinen Willen aufzuzwingen, usw.
Die Wesenszüge des Ostens können dagegen folgendermaßen charakterisiert werden:
synthetisch, zusammenfassend, integrierend, nicht unterscheidend, deduktiv, unsystematisch,
dogmatisch, intuitiv (bzw. affektiv), nicht diskursiv, subjektiv, geistig individualistisch
und sozial kollektivistisch usw."
Gerade Begriffe wie "dogmatisch" und "sozial
kollektivistisch" führen oft zu Unverständnis, Zank und Hader, da doch gerade
das Denken des Ostens dezidiert undogmatisch sei und dem "sozial Kollektivistischen"
das "geistig Individualistische" entgegengehalten wird. Dazu ist jedoch zu sagen,
dass es bspw. zu den großen Weisheiten des Buddha im Buddhismus selbst keine kritische
Literatur gibt, viel mehr deren quasi dogmatischer Charakter fraglos anerkannt
wird, obgleich es dem Praktiker freisteht vom vorgeführten Pfad abzuweichen (wiederum
ein antidogmatischer Zug; was eben zu entsprechenden Irritationen führen kann,
wenn dann plötzlich von Dogmatismus die Rede ist). Auch geistiger Individualismus
wird oft gegen den sozialen Kollektivismus ins Treffen geführt, wobei jedoch zu
betonen ist, dass das eine das andere nicht ausschließt, weil die Handlungsebenen
verschiedene sind (es ist die Eigenart asiatischer Denkweisen, in sozial kollektivistischer
Manier geistigen Individualismus zu betreiben). Vielmehr mag das Kollektivistische
dem Individualistischen dienlich sein, stellt es ihm doch eine tragende ökonomische
Basis bereit und entlastet es die individualistische Anstrengung von der Mühsal
oppositionellen Gehabens. Der Nachteil der Einbettung in herrschende Kultur liegt
natürlich auch auf der Hand. Es handelt sich um einen gewissen Hang zum Opportunistischen
(selbst noch in Subkulturen des Ausscheidens), und es erschwert
dem Kulturfremden (dem West-Menschen) die Annäherung an diese Kultur (eine Erfahrung,
welche Hermann Hesse
bei seiner Indienreise 1911 machen musste: nur mit Mühe
gelang es ihm sein dahin gehegtes Ideal von der Weisheit Asiens aufrechtzuerhalten).
Für Daisetz Teitaro Suzuki hat die westliche Verstandesrationalität eine Maschinenkultur
hervorgebracht, in deren Zentrum der Mechanismus der Maschine steht, dem das
Lebensganze untergeordnet wurde. Nach Denis de Rougemont seien "der Mensch und
die Maschine" - miteinander in Einklang gebracht - die beiden hervorstechendsten
Merkmale der westlichen Kultur. Wogegen der östliche Geist, in der Auffassung
von Suzuki, dem Chaos verpflichtet ist, typisch verkörpert in der Person des
chinesischen Philosophen
Laotse
(viertes Jahrhundert v. Chr.), der in seiner eigenen Beschreibung einem Idioten
ähnelt, womit er seine praktische Nutzlosigkeit in dieser utilitaristischen
Welt zum Ausdruck bringt. Im Vergleich mit dem westlichen Verstandeskult erscheint
der Osten in vieler Hinsicht dumm, chaotisch und scheinbar gleichgültig, doch
geht es dabei um ein friedliches und harmonisches Zusammenwirken aller in Bezug
auf das Unendliche selbst, das tatsächlich jedem einzelnen der endlichen Glieder
zugrunde liegt. Und es geht darum, nicht dem Maschinendenken zu verfallen, in
dessen Knechtschaft westliche Rationalität geraten ist.
Daisetz Teitaro Suzuki erachtet die westliche Kultur aus dem genannten Grund
als eine Kultur der Unfreiheit (obwohl Freiheit soziologisch betrachtet an sich
eine unsinnige Idee sei), voll der inneren Widersprüche und ohne praktizierte
Verantwortungsethik. Die im Westen propagierte Vorstellung von Spontaneität
hätte oft nicht die voll ausgereifte Persönlichkeit zum Ziel, sondern einen
kindlichen oder gar tierischen Zustand der Unreife. Als Zen-Buddhist lehne er
die wissenschaftliche Methode des Westens ab, da diese vom Gegenstand selbst
fortabstrahiere und das synthetische Ergebnis von Abstraktionen sodann mit dem
Gegenstand selbst verwechsle. Suzuki nimmt für sich deswegen in Anspruch "antewissenschaftlich"
oder gar "antiwissenschaftlich" zu sein. Dem Zen gehe es um eine Praxis unmittelbarer
Anschauung, ohne Vernunftgründe und ohne Zögern, um Erkenntnis des noch Unbekannten.
Und in Hinblick auf das gestellte Thema "Zen-Buddhismus und Psychoanalyse" stellt
Daisetz Teitaro Suzuki die Frage: "Warum sollen wir dieses Unbekannte also nicht
das kosmische Unbewusste oder die Quelle unendlicher Schöpferkraft nennen, aus
der nicht nur Künstler aller Art ihre Inspirationen nehmen, sondern die selbst
uns gewöhnliche Wesen, jeden seinen natürlichen Gaben gemäß, dazu befähigt,
sein Leben in ein wahres Kunstwerk zu verwandeln?" - Was für schöne Worte, doch
noch kein Schlusswort. Der Auslandsjapaner Suzuki führt des weiteren aus: "Das
Unbewusste im Zen-Buddhismus", "Die Auffassungen des Ich im Zen-Buddhismus",
"Das
Koan" und "Die fünf Stufen (go-i)", wobei er eine Anzahl kritischer
Einwendungen gegen die Schriften des Zen (bspw. mangelndes soziales Engagement)
zu entkräften sucht und das Durchschreiten des Buddha-Wegs anhand der inneren
Entwicklung des Zen-Anhängers zu veranschaulichen trachtet.
Erich Fromm erhellt das Zen im Lichte
der geistigen Krise der Gegenwart (Verdinglichung des Menschen;
das Sein wird vom Haben beherrscht) und stellt es in Bezug zu Denkweisen
des abendländisch-christlichen Kulturraums, zur Psychoanalyse (als wissenschaftlich-therapeutische
Methode) im allgemeinen und zu den Werten und Zielen in Freuds psychoanalytischen
Auffassungen im besonderen. "Wo es ein Es gab - dort soll ein Ich sein", lautete
Freuds rationalistisches Credo, womit er zweifellos den Höhepunkt des westlichen
Rationalismus repräsentierte. Trotz der scheinbaren Unvereinbarkeit des Freud'schen
Verstandeskults mit dem Zen-Buddhismus findet Fromm doch einige Anknüpfungspunkte,
etwa in der Geringschätzung des bewussten Gedankensystems durch
Freud, welches
er mit der Methode der freien Assoziation zur Erfahrung des Unbewussten durchbrechen
wollte. Und abgesehen von Freud, findet Fromm in der Dialektik von
Hegel und
Karl
Marx Ähnlichkeiten mit der paradoxen Logik eines Laotse oder eines
Tschuangtse.
Gleiches gelte übrigens auch für Freuds Begriff der Ambivalenz, der besagt, dass
man zur gleichen Zeit für die gleiche Person Liebe und Hass empfinden kann.
Erich
Fromm reflektiert darüber hinaus "Das Wesen der Gesundheit - die psychische Entwicklung
des Menschen", "Bewusstsein, Verdrängung und Aufhebung der Verdrängung", "Prinzipien
des Zen-Buddhismus" und letztlich zusammenführend "Aufhebung der Verdrängung und
Erleuchtung". Hiermit wird klar, dass ein Leben nach Prinzipien des Zen-Buddhismus
dem Wesen von Gesundheit als ein Sein im Einklang mit der Natur des Menschen zu
erachten ist.
Abschließend findet sich eine Abhandlung von Richard de
Martino über die Situation des modernen Menschen und den Zen-Buddhismus als Lösungsansatz
zur existenziellen Krise des modernen Menschen. Richard de Martino führt u.a.
aus, dass der existenzielle Ausdruck des Menschen von zweifacher Angst geprägt
sei: die Angst vor dem Leben und die Angst vor dem Sterben. Beide Ängste sind
Ausdruck einer fundamentalen Grundangst: die Angst, ob das Ego den quälenden inneren
Riss und Widerspruch (ausgesperrt aus einer Welt, auf die es bezogen ist) überwinden
kann, der es daran hindert, voll und ganz es selbst zu sein. Die Angst vor dem
Leben stammt aus der Notwendigkeit, sich mit diesem Widerspruch abzufinden und
ihn zu lösen. Die Angst vor dem Tod kommt daher, dass das Leben möglicherweise
enden kann, bevor eine Lösung erzielt wurde. Der Zen-Buddhismus könne auf dieses
Dilemma des modernen Menschen eine Antwort geben, sei doch der einzige gültige
Bestandteil des Zen-Buddhismus das eigene konkrete Leben und Sein, sein fundamentaler
Widerspruch, seine Unvollkommenheit und - zum Unterschied zur bloßen Sehnsucht
- die wirkliche Suche nach Harmonie und Erfüllung. Stets bleibt es einziges und
ausschließliches Ziel des Zen-Buddhismus, die innere und äußere Spaltung (die
widersprüchliche dualistische Subjekt-Objekt-Struktur des Ego im Ichbewusstsein)
zu überwinden, die das Ego von sich selbst - und von seiner Welt - trennt und
entfernt, damit es vollkommen sein und wirklich wissen kann, wer und was es ist.
Dieses Buch hat mich wirklich weitergebracht in meinem Leben zum Sein. Fromm, Suzuki und Martino mögen unzeitgemäß in ihren Ansichten sein, und selbst Suzuki mag sich in seiner japanischen Heimat, wo das Zen mehr und mehr zur bloßen Folklore verkümmert, vielleicht schon als Fremder fühlen, so doch, ihre Auffassung des Zen verlangt vom westlichen Leser keinen intellektuellen Suizid, sondern überzeugt selbst noch den reserviertesten Rationalisten vom Wert des Versuchs, sich auf den Pfad östlicher Heilslehre einzulassen. Ein wertvolles Buch, das bei der Entfaltung von Diesseitigkeit behilflich sein kann.
Zum Ausklang noch ein paar besinnliche Worte von Daisetz Teitaro Suzuki: Das Zen mag gelegentlich zu rätselhaft, verborgen und voller Widersprüche erscheinen, aber es ist im Grunde eine einfache Disziplin und Lehre:
"Gutes
zu tun,
Böses zu meiden,
Sein Herz zu läutern:
Das ist der Buddha-Weg."
(Harald
Schulz; 21. Juli 2002)
Erich
Fromm, Daisetz Teitaro Suzuki, Richard de Martino:
"Zen-Buddhismus und Psychoanalyse"
Suhrkamp,
2002.
Taschenbuch. 225 Seiten.
ISBN 3-5183-6537-1.
ca. EUR 8,50.
Buch bestellen