Egon Friedell: "Vom Schaltwerk der Gedanken"

Ausgewählte Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur


Essays eines unkonventionellen Denkers

Egon Friedell, der erst im vierten Anlauf das Abitur (die Matura) bestand, gehört zu den brillantesten Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts. Er konnte beim Schreiben auf eine umfassende Bildung zurückgreifen, die durch seine vielseitigen Interessen genährt wurde. Außer als Schriftsteller und Journalist war er auch als Schauspieler, Kabarettist und Kulturphilosoph aktiv.
Friedell hat zahlreiche Essays verfasst, von denen man eine ganze Reihe im vorliegenden Band findet. Es geht darin um Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur. Das Buch besteht aus fünf Teilen:

      Abschaffung des Genies
      Zur Psychopathologie des Schauspielers
      Literaturpolizei
      Sokrates der Idiot
      Das Altertum war nicht antik

Im ersten Teil beleuchtet der Autor den Geniebegriff anhand zahlreicher Beispiele, insbesondere aus dem Bereich der bildenden Kunst. Doch auch die Schule beziehungsweise das Gymnasium, der Ort, an dem Genies eigentlich erblühen sollten, kommt zu ihrem Recht; der diesbezügliche kritische Essay erhält angesichts der Debatte über die PISA-Misserfolge deutscher Schüler (Österreich steht diesbezüglich etwas besser da) neue Brisanz. Mit Interesse dürften sowohl Frauen als auch Männer Friedells so humorige wie scharfsinnige Ausführungen zur mangelnden Genialität (nicht Intelligenz!) von Frauen zur Kenntnis nehmen; ob man ihnen zustimmt, sei jedem persönlich überlassen.
Einen spannenden, pointierten Einblick in den Theaterbetrieb bieten die nicht selten mit beißender Ironie - einen hohen Anteil Eigenironie eingeschlossen - gewürzten Essays zu diesem Thema. Kein Aspekt bleibt außen vor, auch nicht das einmal umworbene, einmal geschmähte Publikum. Das Buch enthält zudem diverse Essays zu einzelnen Dramatikern, zwei Größen aus dem Musiktheater inklusive, nämlich Mozart und Wagner.
Im Abschnitt "Literaturpolizei" wendet sich Friedell zum einen den verschiedenen Protagonisten des Literaturbetriebs zu, wobei der Essay "Der Hass des Künstlers" vielleicht gesondert erwähnt werden sollte, denn die sorgsam begründete These, dass ein Hassender keine Kunst schaffen könne, verdient Beachtung. Zum anderen beleuchtet Friedell die Biografien, Werke und Rezeption einzelner großer Dichter.
"Sokrates der Idiot" bietet einen recht unkonventionellen Abriss der Philosophiegeschichte anhand einer Reihe von Essays, in denen Friedell wie gewohnt durch Witz und Extravaganz, ebenso aber auch durch präzise Kenntnis der Materie brilliert.
In "Das Altertum war nicht antik" schließlich untersucht der Autor die Dynamik innerhalb der Geschichte, teils anhand ausgewählter Fragestellungen, teils mittels der Betrachtung einzelner politischer Größen. Zudem betrachtet er Zusammenhänge zwischen Politik, Wissenschaft und Kunst.
Der Anhang enthält eine biografische Zeittafel, Betrachtungen zum Autor sowie ein Personen- und Werkregister und Literaturnachweise.

Dieser hochwertig ausgestattete, mit einem ansprechenden, stabilen Schuber versehene Band bietet Lektüre, die vor Geistesblitzen, kühnen Gedankengängen und - dennoch - einem Gerüst aus messerscharfer Logik geradezu strotzt. Die Essays, weit über ein halbes Jahrhundert alt, bestechen durch ihre Zeitlosigkeit. Um Objektivität bemüht sich der Autor ganz bewusst nicht immer, gern verwendet er satirische Elemente, und trotzdem besitzen seine sorgfältig aufgebauten Essays einen hohen Informationsgehalt, vom Unterhaltungswert einmal abgesehen. Der spritzige Stil und die klare, elegante Sprache gestalten die Lektüre besonders kurzweilig.

Immer wieder wird der Leser von Friedells vielschichtiger Persönlichkeit überrascht, zum Beispiel, wenn der unkonventionelle, kritische Denker plötzlich eine tiefe Gläubigkeit offenbart. Launig, selbst- und gesellschaftskritisch, dabei immer ausgesprochen gehaltvoll präsentiert Egon Friedell seine Gedanken in den Essays, und der Leser wird feststellen, dass die Lektüre dazu veranlasst, das eigene Weltbild zu überdenken und vielleicht manche Details zu korrigieren.

(Regina Károlyi; 01/2008)


Egon Friedell: "Vom Schaltwerk der Gedanken.
Ausgewählte Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur"

Diogenes, 2007. ca. 700 Seiten.
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Egon Friedell wurde am 21. Jänner 1878 in Wien geboren, wo er am 16. März 1938 starb. Sein Grab befindet sich auf dem evangelischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs.
Die Matura bestand der spätere Verfasser der "Kulturgeschichte der Neuzeit" und der "Kulturgeschichte des Altertums" erst im vierten Anlauf, die Promotion im zweiten. Er war ideal für die Rolle des Goethe im gleichnamigen Kabarettstück, das er mit Alfred Polgar zusammen geschrieben hatte und in dem Goethes Geist in der mündlichen Matura über sich selbst befragt wird und kläglich durchfällt. Friedell war Theaterkritiker, Schauspieler, Dramaturg, Conférencier, Aphoristiker, Feuilletonist, Herausgeber, Übersetzer, Schriftsteller und ist als Kulturhistoriker bis heute unübertroffen. Er war auch Jude. Als einen Tag nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, am 16. März 1938, zwei SA-Männer in der Wiener Gentzgasse 7 an seiner Wohnungstür klingelten, sprang der sechzigjährige Friedell vom dritten Stock aus dem Fenster.

Weitere Werke des Autors (Auswahl):

"Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients"
Der 1936 erschienene Band "Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients", erstmals in Zürich veröffentlicht, bildet zusammen mit der "Kulturgeschichte Griechenlands" das reife Spätwerk des "geistvoll ironischen Geschichtsphilosophen", das als Pendant zu dem erfolgreichen Werk "Kulturgeschichte der Neuzeit" ebenfalls auf drei Bände angelegt war. In Folge des tragischen Todes von Egon Friedell wurde der dritte Band, der die römische Zeit behandeln sollte, nicht mehr geschrieben. (C.H. Beck)
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"Kulturgeschichte Griechenlands"
Die Gesamtschau der Zusammenhänge, die Querverweise auf Europa und das Aufzeigen von gleichzeitigen Entwicklungen in anderen Ländern machen sie zu einem Muss für jeden, der sich mit Kulturgeschichte beschäftigt. (C.H. Beck)
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"Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg"
(C.H. Beck)
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