Franzobel: "Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik"
Der Autor hat laut eigener Aussage insgesamt acht Jahre am nunmehr
vorliegenden "Argentinien-Roman" geschrieben. Allerdings besteht ein
wesentlicher Unterschied etwa zu Christoph
Ransmayr, der sich für jeden Roman viele Jahre Zeit lässt. Ransmayr
beschäftigt sich ausschließlich mit dem Roman und ist bemüht, jeden
einzelnen Satz bis zur Perfektion zu schleifen. Ausgezeichnete Werke
wie "Die letzte Welt" oder
"Die Schrecken des Eises und der Finsternis"
belegen diesen Drang zum Feinschliff. Franzobel alias Stefan Griebl
hingegen schreibt immer an mehreren "Projekten" gleichzeitig, und so
stellte er während des Entstehungsprozesses des zu besprechenden Romans
u.a. zwei Romane fertig. Außerdem schuf er mehrere Theaterstücke und
Kinderbücher. Die Ausschließlichkeit wie bei
Ransmayr ist folglich nicht gegeben.
Das mag also das Ergebnis
relativieren. Denn - vorweg geschrieben - die acht Jahre des Schreibens
"in den Zwischenräumen" mögen Spuren hinterlassen haben. Franzobel ist
mit seiner "Krautflut" bekannt geworden; einem gewagten
Sprachexperiment, das fast ohne Handlung auskommt. Dafür wurde ihm fast
einstimmig von der Jury der "Bachmann-Preis" des Jahres 1995 zuerkannt.
Absolut zurecht.
"Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt", im Jahr 2000
erschienen, ist im ersten Teil eine fulminante Sprachakrobatik. Mit der
grauenhaften Schilderung einer Leichenschändung ist die Dynamik des
Romans gebrochen. Nach etwa der Hälfte der Erzählung geht die
sprachliche Tiefe völlig in nebulösen, auf einen
Handlungshöhepunkt angelegten Nebensträngen unter. Ähnlich verhält es
sich mit "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit".
Aufgrund der Kürze dieser Geschichte sind glücklicherweise die
Nebenstränge nicht so stark ausgeprägt, was der Qualität gut tut.
Völlig anders bei jenem Roman, der von vielen Lesern, die Franzobel
schätzen, mit Spannung erwartet wurde. Denn der Autor verzichtet völlig
auf die Sprachakrobatik. Was bei den o.a. Romanen etwa zur Hälfte oder
sogar darüber hinaus umgesetzt wurde, bis Nebenstränge den Hauptstrang
buchstäblich zermalmten, passiert beim "Argentinien-Roman" fast von
Anfang an. Die ersten Seiten lesen sich noch gut und flüssig; heben die
Erwartungshaltung. Letztlich ist es leider so, dass es bei der Hoffnung
bleiben muss. Franzobel verzichtet tatsächlich gänzlich auf die Macht
seiner Sprache; möglicherweise zu Gunsten der Handlung. Das Problem ist
nur, dass die Handlung wenig hergibt.
Die Hauptfigur,
Oskar Wuthenau,
ist, wie Franzobel wohl selbst zugeben mag, ein "Ungustl". Einen
solchen Menschen in den Blickpunkt zu stellen, ist allein schon ein
Wagnis. Es ist mehr als befremdend, warum dieser Wuthenau ausgerechnet
in Argentinien gestrandet ist und seine monströse Gestalt durch die
Straßen zwängt. Dieser Kerl könnte in jeder Stadt der Welt sein Unwesen
treiben und es gäbe nur wenige Menschen, die mit ihm zu tun haben
wollten. So begegnen dem Leser des Romans großteils nur Figuren, welche
ebenso wie Wuthenau unsympathisch oder unwesentlich rüberkommen. All
diese Ungustln werden vorgeführt wie in einer Witzkiste. Einer
schwachsinniger als der Andere. Ob es sich um Altnazis, Nekrophile oder
Scheißefresser handelt: Irgendwie möchte ich als Leser mit solchen
Typen nichts zu tun haben. Es gibt auch keinen echten Kontrapunkt.
Selbst die Frauen sind ohne jegliche höhere Bedeutung, als wären sie
nur Schattenrisse ihrer selbst. Die Erklärung für dieses wenig
originelle "Spiel" erfolgt übrigens auf den letzten Seiten des Romans,
wo Franzobel endlich seine Qualitäten als Autor durchscheinen lässt.
Der Titel des Romans bezieht sich auf die Orgie, von der ausgehend die
daran beteiligten Figuren allerhand weitere Obszönitäten treiben -
einschließlich der Erklärungen, warum diese Menschen denn so sein
mögen, wie sie sind. Im Laufe dieser sexuell orientierten Orgie kommt
es zur schrecklichen Hinrichtung eines Mannes, dessen Leiche
schließlich auf bestialische Weise geschändet wird. Kurioserweise
verhält es sich ähnlich wie beim "Wurznbacher"-Roman: Nach dieser
Schändung fällt das Weiterlesen ziemlich schwer. Was den Roman immer
wieder auflockert, ist die komische Zurschaustellung von kleinlichen
Lebensmustern der verschiedenen Figuren. Sie werden transparent bis in
die Gedärme dargestellt, und so treffen alle an der Orgie Beteiligten
nach Seite 600 in fröhlichem Zusammensein aufeinander. Von der Struktur
her erinnert das stark an die beiden anderen erwähnten Romane des
Autors. Unterschied ist einzig und allein, dass die sprachliche
Experimentierfreudigkeit nicht eingesetzt werden wollte.
Es wäre die eigenartige, teilweise uninspiriert rüberkommende Sprache
verzeihlich, wenn die handlungsspezifischen Ingredienzien nicht so
banal wären. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Argentinien werden
maximal angedeutet, der Vergleich zwischen Wien und Buenos Aires hinkt
zudem gewaltig. Franzobel verbringt eine Hälfte des Jahres in
Österreich, die andere in Argentinien. An seinen Erfahrungen in diesen
zwei völlig verschiedenen Welten lässt er den Leser allerdings nicht
teilhaben. Sind es in Wien stelzenfressende Ungustln oder - ein häufig
vorkommender Begriff - "Fickschweinchen" - so sind es in Buenos Aires
vertrottelte Hausmeister oder auf ihre Darmtätigkeit reduzierte
Kerlchen, welche das Szenario bestimmen. Der Roman ist darauf bedacht,
die wahren Wichtigkeiten des Lebens in den Vordergrund zu stellen. Was
uns nur als nebensächlich erscheinen mag, wird bis zum Extrem
aufgeplustert. Tatsächlich sind die Müllmenschen nur einen Nebensatz
wert; der Dünnschiss eines von Neurosen zerfressenen Idioten wird
hingegen genauer unter die Lupe genommen. Diese Umkehrung der
Bedeutungen ist wohl beabsichtigt; entzieht sich dennoch meinem
Verständnis. Wir Menschen sind in biochemische Prozesse eingebunden;
doch was soll es für einen Sinn haben, diese Prozesse buchstäblich bis
zum bitteren Ende darzustellen?
Freilich sind es die komischen Elemente, die den Roman alles in allem
aufwerten. Eingewoben in die Erzählung ist eine kriminalistische
Handlung, wobei dem zuständigen Kriminalisten namens Seber nichts daran
liegt, den Fall aufzuklären, da er selbst am Verbrechen beteiligt war.
So beschäftigt er sich bewusst nur "nebenbei" damit, und seine
seltsamen Vorlieben werden in anderem Kontext zur Geltung kommen.
Es ist eine irgendwie verschachtelte Geschichte. Ein Strang stülpt sich über
den nächsten usw. Am Ende soll dann ein Puzzle aufgehen. Nicht aber für mich, obwohl ich das Strickmuster erkannt habe.
Leider gibt es über diesen Roman von Franzobel nicht mehr zu erzählen.
Zuviel ist banal, harmlos oder widerlich. Zwar gibt es eine
"Botschaft", wie weiter oben
angedeutet; das macht das Kraut aber leider nicht fett. Ich kann mir
diese kuriose Geschichte nur damit erklären, dass Franzobel immer
mehrere Projekte gleichzeitig bewältigt. Möglicherweise kommt er sich
dabei selbst in die Quere. Was er seinen Lesern hier vorlegt, ist - aus
meiner subjektiven Sicht betrachtet - sein mit Abstand schwächster
Roman. Die Prosa ist nicht sprachgewaltig angelegt, sondern höchstens
solide bis langweilig und uninspiriert. Von einem Autor wie Franzobel
sollte mehr erwartet werden. Selbst die Schilderung einer Orgie ist ihm
in anderen Romanen weit besser gelungen. Ich nehme mal an, dass er sich
mit seiner Vielschreiberei selbst ein Bein gestellt hat.
(Jürgen Heimlich; 08/2005)
Franzobel: "Das Fest der Steine oder Die
Wunderkammer der Exzentrik"
Zsolnay, 2005. 656 Seiten.
ISBN 3-552-05349-2.
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Leseprobe:
- Wie es weitergeht? Also gut. Warum wird man fett? Begreift der Körper nicht,
dass er immer noch genug bekommen hat? Warum wächst ein Bauch? Weil der Bauch
die sentimentalste, melancholischste Körperstelle ist? Eine Mole, wo die Heimat
anlegen kann, wenn sie angetrieben kommt.
Wuthenaus Bauch war fest und aufgetrieben wie ein Schildkrötenpanzer. Wie hatte
Deliah gesagt? Ist so dick, dass man nicht weiß, wo hinten und vorne, wo oben
und unten ist. Aber wozu? Ist der Bauch bloß eine großkotzige Großmannssucht,
der Traum der Albaner von Großalbanien, ein böhmischer Traum vom Meer? Oder
ist er ein verzweifelter Versuch, sich Heimat anzuessen, der abgetrennte Teil
von einem selbst? Der abgeschnittene andere, von dem
Platons Gastmahl spricht.
Stimmt es, dass Dicke sensibler sind, ihr
Fett nur da ist, damit man ihr
innerliches Zittern nicht sieht? Man nichts merkt von ihrer Angst? Ist der Körper
der Ort des Verdrängten, der alles aufsaugt, das Unterbewusste auswächst, oder
wie Bopi, das Mondkälbchen, gesagt hätte, die Anima aus dem Tarot? Und warum
glaubt man, dass dicke Männer witzig sind?
Wenigstens Oswald war in seinem Inneren ungeschützt. Was immer er zeit seines
Lebens unternommen hatte, alle seine Eskapaden und Exzentrizitäten waren im
Grunde nichts anderes als ein Überspielen dieser Unsicherheit, dieser Angst
vor einem Bauchfleck und letztlich wohl auch der Phobie, noch einmal einer Tante
Milli vor die Tür gestellt zu werden. Der Bauch war sein Panzer. Der Bauch samt
practikal jokes, Zynismus und seiner Nazikruste hielt alles auf Distanz, sogar
die Angst. Dabei war Angst ja meistens unbegründet, wenigstens die vor einem
Flugzeugabsturz. Nichts war nämlich passiert. Die Prophezeiungen waren verpufft
- sowohl die indianische als auch die madlenische. Also war Wuthenau mitsamt
seinem Bauch sicher in Berlin-Schönefeld gelandet. Ostdeutschland. Die DDR war
wie Argentinien, nur ohne Sonne.
Gigantische Wolkenfliesen lagen am Himmel. Nur an manchen Stellen waren sie
schlecht verfugt, schimmerte der blaue Himmel durch. Anstelle der argentinischen
Sonne und des
österreichischen Adlers
prangten in der DDR Hammer und Sichel, leuchteten auf Fahnen, strahlten alles
an, sogar die streng gekleideten Frauen, die infolge dieser ständigen Behämmerung
und Zersichelung nichts Weiches mehr ausstrahlten; kantige, eckige Geschöpfte,
wie mit Tusche konturiert. Im Grunde war die DDR eine Bananenrepublik - nur
ohne Bananen. Auch der in lateinischen Ländern so wichtige Schwanz, die menschliche
Banane, mit der
in
Südamerika Politik gemacht wurde - und zwar aus dem Bauch heraus - hier
im Preußenland hatte er keine Bedeutung. Hier war alles eingelegte Nuss, verhirnt.
Alles war verkopft, zerredet. Und sonst? Die gleichen Monumente wie in Argentinien,
Plattenbauten, derselbe Gewerkschafts- und Kantinengeruch, die gleiche Verbissenheit
in den Gesichtern. Dieselbe, nein, noch eine viel größere Angst vor seinem Nächsten,
vorm Ausspioniertwerden.
Schon auf dem Empfang des Kultusministers wurde Wuthenau klar, dass dieser Sozialismus
niemals funktionieren konnte. Kaum Bäuche! Aber kein Wunder. Bei dieser Küche!
Die Ostdeutschen waren Weltmeister im Speisenverpfuschen. Heiße Pellkartoffeln
servierten sie mit kalter Sahne und lauwarmem Hering, Hasenbraten kredenzten
sie zu panierten Äpfeln und Rübenmarmelade, Erbsenreis gab's mit Zwiebelsauce,
zu Fisch Karottenmus mit Krautsalat. Als Dessert reichten sie
Knoblauch in
Honig, Rettich mit
Käse und noch ein paar Geschmacksverfehlungen,
die einem den Magen umdrehten.