Franzobel: "Der Narrenturm"
Stück, Materialien, Collagen
Literarisches
Shirley-Temple-Syndrom
Erinnern Sie sich noch an die Filmschauspielerin Shirley Temple? Als sie ein süßes,
gelocktes Kind war, ernährte sie eine ganze Industrie. Als sie heranwuchs,
wollte sie keiner mehr sehen. Und nun nehmen Sie den Dichter Franz Stefan Griebl,
bekannt geworden unter dem Namen Franzobel. Der Name war gut gewählt, klang österreichisch,
nach Kunst und war irgendwie nobel. Wer so nobel im Zobel Worte hobelt, hat was.
Als Zirkuskind Griebl 1995 mit seinem Text "Die Krautflut" die
Klagenfurter Jury begeisterte, war er ein wirklicher Kinderstar der neuen österreichischen
Literatur. Sein Text erschien kurze Zeit später bei Reclam Leipzig in
Klassikerformat. Auch ich ging damals in die Buchhandlung, las den Text und war
erfreut, erstaunt und bereichert von dem, das ich da las. Zwar unkte man bald,
Franzobel würde zu viele Werke "hervorkarnickeln" und auch das Wort
des Klagenfurter Jury-Nestors Peter Demetz, hinter den "literarischen
Hanswurstereien" finde man unter "viel Panade kein Schnitzel" -
immerhin galt der Vöcklabrucker als neue literarische Hoffnung seines
Heimatlandes.
Seither sind zehn Jahre vergangen, und Franzobel, der sich in der
Kurzbeschreibung zum neuen Buch "Der Narrenturm" als "freischaffender
Radfahrer" bekennt, ist immer noch da. Das große Werk, das man von ihm
erwartet hatte, ist ausgeblieben. Und ehrlich gesagt, der Mann nervt langsam.
Ich glaube, die Ursache liegt darin, dass er einfach kein literarisches Kind
mehr ist, und nicht mehr niedlich, sondern einer von vielen Schriftstellern um
die 40, denen mangels Talent, Fleiß und Tatkraft ein kühner Wurf versagt
bleibt. Der heutige Franzobel erscheint mir leicht angejahrt, etwas verschlampt
und irgendwie aus der Zeit gefallen. Shirley Temple als Nicht-Kind eben.
"Der Narrenturm" ist ein Stück, das 2002 im deutschsprachigen Raum an
mehreren Stellen aufgeführt wurde. Meine Reaktion: Schon lange kein so
peinliches Buch mehr gelesen. Warum peinlich? Nun, das geht hier über mehrere
Ebenen. Nehmen wir einmal die Formale. Zähmen wir das Pferd von hinten auf. Der
letzte Abschnitt des Buches ist betitelt "Reaktionen" und gibt vor,
Pressestimmen zum Stück zu versammeln. Vergleichen Sie einmal folgenden Text
aus dem Buch:
Die fünf Spieler, Effi Elsner, Meike Schlüter, Juliane Werner, Christian
Wittmann und Klaus Zwick, sprechhandeln wohlgemut und mit höchster Akkuratesse,
sie setzen formale Umbetonungen ein, ordnen ihre Haltungen, dosieren und
begrenzen ihr Körpersprachvermögen: sie machen Anstalten, spielen mit ihren Körpern
wie auf Instrumenten. Der Regisseur Christoph Coburger hat Komposition studiert.
Das merkt man nicht nur an den wunderschönen mehrstimmigen Liedern. Die ganze
Dramaturgie erinnert, wie die Themen und Motive einsetzen und in Reprisen
variiert werden, an Kammermusik. Klang und Form der Sprache drängen sich in den
Vordergrund. Sie schaffen eine hoch poetisierte, fiebrige Stimmung ... es könnte
sich bis in alle Ewigkeit fortsetzen oder nach dreißig Minuten abbrechen. Man möchte
ihn mit nach Hause nehmen und ab und zu in ihm herumstöbern.
Mit dem folgenden, vollständigen Text, der tatsächlich in der Wochenendausgabe
6./7.4.2002 der "Berliner Zeitung" stand:
Die fünf Spieler, Effi Elsner, Meike Schlüter, Juliane Werner, Christian
Wittmann und Klaus Zwick, sprechhandeln wohlgemut und mit höchster Akkuratesse,
sie setzen formale Umbetonungen ein, ordnen ihre Haltungen, dosieren und
begrenzen ihr Körpersprachvermögen: sie machen Anstalten, spielen mit ihren Körpern
wie auf Instrumenten. Der Regisseur Christoph Coburger hat Komposition studiert.
Das merkt man nicht nur an den wunderschönen mehrstimmigen Liedern. Die ganze
Dramaturgie erinnert, wie die Themen und Motive einsetzen und in Reprisen
variiert werden, an Kammermusik. Klang und Form der Sprache drängen sich in den
Vordergrund. Sie schaffen eine hoch poetisierte, fiebrige Stimmung, die nicht
wenig an Christoph-Marthaler-Abende erinnert.
Franzobels Text rutscht einem zum großen Teil durch die Ohren. Es wurde zu viel
hineingeschichtet, ab und an schaltet sich die Aufmerksamkeit aus, entgleitet,
findet sich woanders wieder ein. Das liegt auch an der Zuständlichkeit des
Geschehens: es könnte sich bis in alle Ewigkeit fortsetzen oder nach dreißig
Minuten abbrechen. Man kommt genauso weit, ob man sich so oder so lange auf der
Stelle bewegt. Es ist ein Abend, der sich beim einmaligen Am-Stück-Sehen nicht
in seinem Reichtum erschließt. Man möchte ihn mit nach Hause nehmen und ab und
zu in ihm herumstöbern.
Haben Sie den Unterschied bemerkt? Die Rezension der "Berliner Zeitung",
die den Titel "Für 30 Minuten oder alle Ewigkeit" trug, war ein
klarer Verriss. Das Stück, so der Rezensent, trete auf der Stelle, und öffne
sich dem Zuschauer nicht. Diese "Art Monolog" sei kein Stück für die
Bühne, und seine Handelnden "verlautbaren Gedankenkonvolute, ohne zu
dialogisieren." Das Schlimmste aber: Der Text des Autors "rutsche
einem zum großen Teil durch die Ohren." Ich glaube nicht, dass dieses
Faktum für den Text spricht, noch dass diese Reaktion vom Autor intendiert
wurde. Als Peinlichkeit verschwiegen in einem Anhang, der "Reaktionen"
wiedergeben will, ist doppelt peinlich.
Wie steht es nun mit der Rezension, die am 12.1.2002 in der Hamburger "TAZ"
erschien, der liberalsten Tageszeitung Deutschlands, die sich sonst für
progressive, durchaus schmerzhafte Kunst stark macht? Hiervon steht ein kurzer,
freundlicher Absatz im Buch. Wer die Zeitung selbst heranzieht, die hier zitiert
wird, merkt dann, dass auch hier ein scharfer Verriss des Stücks vorlag. Die
"TAZ" veröffentlichte unter dem Titel "Unvernünfte unter sich"
einen Text, der Schauspieler und Regisseur lobt, dem Stück aber alle
handwerklichen Fähigkeiten aberkennt. Es sei "Wahn ohne Wahrheit",
wie Theaterkritiker Morten Kansteiner moniert. Die Dialoge seien dilettantisch,
es finde keine dramatische Entwicklung statt:
"Alle klingen ein bisschen nach Franzobel, nach anderen Texten des
Wiener Vielschreibers: Mitunter kollidieren Umgangssprache und Eigenwilligkeiten
zu verschrobenen Formationen, und an vielen Stellen fasst sich die Sprache
fleischern an. Vielleicht ist der Tod ein keimender Wunsch", philosophiert
Ahab, "der Träger des Himmels, ein Achselschweißschwarm." So
monologisieren sie vor sich hin. Irgendwann tauchen ein paar Motive wieder auf,
die am Anfang schon da waren: Dann kann das Ende nicht mehr weit sein. Aber
irgendwie könnte alles ewig weitergehen. Entwicklungen sind dem Text nicht
anzumerken.
Ich behaupte: Kritik anzuführen, alles Unangenehme auszusparen und nur mehr das
Lob für Coburger stehen zu lassen, das trüge besser die Überschrift "Zensierte
Reaktionen, in denen alles Wahre über das Werk des Autors ausgespart wurde".
Kommen wir nun zum Stück selbst: Was will es sein? Eine Rückbesinnung auf
Josef II. und Maria Theresia? Was machen die? Sie ficken und scheißen - wie übrigens
alle anderen Figuren in dem Stück. Ficken tut dann vor allem die "Flugfut",
die Frau des Hausmeisters des Narrenturms. "Fut tut gut" mag zwar das
erste Gedicht zahlreicher Pennäler sein, "Flugfut" fand ich
ethymologisch dann aber nicht gar so weit von diesem Frühstadium in der
Entwicklung des menschlichen Geistes entfernt.
Es geht in dem Stück wohl um das Geschlechterverhältnis, das aber auf kläglichem,
kümmerlichen Niveau. Ein Mann als Casanova, eine Frau ebenfalls, und das gegen
Ende des Stücks als Talk im Talkshowformat. Dabei keine Überraschungen, nur
die peinliche Vermutung des Lesers, dass das hier alles gar keine Verarsche oder
Satire, sondern elende ehrliche Meinung des Autors sei! In einer vom Fernsehen
abgeschriebenen Sprache, ein bisschen umgestellt, was sie nicht origineller
macht. Wer die Lektüre überstanden hat, ist schon ein harter Knochen.
Überhaupt rutscht einem beim Lesen der Text aus dem Sichtfeld. Er ist so banal,
einfallslos und epigonal, dass es einem beim Lesen peinlich wird. Warum? Vor
allem wegen der allgegenwärtigen 68er-Platitüden. Wer Scheiße und Ficken
sagt, hat im Theater der Provokation schon gewonnen, so die wohlbekannte
Einstellung.
Hört mal zu, Leute! Es sind nun schon fast 40 Jahre vergangen, seitdem
dergleichen Mode war. Das ist bald so lange her wie der Zweite Weltkrieg! Wie
lange müssen wir noch ertragen, dass Experimente einer längst verflossenen
Zeit als Vorbilder herhalten müssen für schlechtes, einfallsloses Schreiben
von Menschen, die nichts zu sagen haben, ihre gedanklichen Mängel nicht zu
kaschieren verstehen, und die offenbar nicht einmal über die Absicht verfügen,
sich ein Schreibhandwerk für das Theater zu erarbeiten?
Peinlich ist das Buch auch wegen seiner Abbildungen. Wir sehen hier immer wieder
Fotografien des Autors, die dieser mit infantilen Kugelschreiberkritzeleien
verziert hat. Einen höheren Sinn wird darin niemand sehen. Aber glaubt
Franzobel wirklich, dergleichen würde von manchen als erhebend, bereichernd
oder befreiend empfunden? An dieser Stelle ein offenes Wort: Es ist einfach nur
geistlos und schlecht gemacht und peinlich, sein Konterfei an allen möglichen
Stellen in die eigenen Bücher zu kleben, Meister Griebl!
Und warum ist das alles peinlich? Weil man früheren Werken wie "hundshirn",
"Böselkraut und Ferdinand" etc. immerhin zwischendurch originelle Formulierungen
abgewinnen konnte. Heute ist - diesem Buch nach zu gehen - alles, was bei Franzobel
nicht schon bekannt, abgeschmackt oder blöde ist, ein schlechter Kalauer, Jelinek
auf Speed, oder besser gesagt: Shirley Temple als Erwachsene. Wenn sie da noch
wie ein Baby gegurgelt hätte, wäre sie blöd gewesen, und deshalb hat die das
Kindischtun dann Gott sei Dank auch gelassen und als Uno-Botschafterin später
viel Gutes getan. Sollte nicht Franz Stefan Griebl auch einmal über ein anderes
Betätigungsfeld nachdenken?
(Berndt Rieger; 05/2005)
Franzobel: "Der Narrenturm"
Passagen, 2005. 115 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
ISBN 3-85165-660-1.
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Lien:
Pathologisch-anatomisches
Bundesmuseum
Ein Sachbuchtipp:
Alfred Stohl: "Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft"
Das pathologisch-anatomische Bundesmuseum in Wien, genannt
"Narrenturm", verfügt über eine umfangreiche Sammlung medizinischer
Exponate, Wachspräparate (Moulagen), Feuchtpräparate und Instrumente. Im 18.
Jahrhundert diente der Turm als Anstalt für Geisteskranke, die in den kreisförmig
angeordneten Zellen zweifelhaften und uns heute als grausam anmutenden
Behandlungsmethoden unterzogen wurden. Die
Architektur des Turms folgt einem -
so konnte der Autor entschlüsseln - astronomisch-okkulten Zahlensystem, mit dem
Zweck, die im geistigen
Chaos befindlichen Insassen mit der kosmischen Ordnung
zu versöhnen. Trotz infernalischen Gestanks, schrecklicher Schreie und
teilweise angeketteter Insassen stieg Joseph II. mehrmals die Woche in seine
"Gloriette", jenes kleine achteckige Türmchen auf dem Dach des
Narrenturms hinauf, um den Himmel zu bestaunen und alchemistische Praktiken
durchzuführen.
Anhand der Geschichte des Narrenturms wird die Gratwanderung der Wissenschaft im
Zeitalter Josephs II. zwischen dem aufgeklärten Rationalismus und merkwürdig
dunklem Aberglauben nachgezeichnet. Drastische Darstellungen aus dem Archiv des
Museums werden im Kontext der zeitgenössischen Theorien der Geisteskrankheit präsentiert.
(Böhlau)
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