Franzobel: "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit"
Der
Autor war fasziniert von den Kapuzinerkatakomben in Palermo. Er wagte den Abstieg,
und es war um ihn geschehen. Es war für ihn ein besonderes Erlebnis, den Staub
einzuatmen, der direkt von den Mumien ausgeatmet zu werden scheint. Die Leichen
von 18 Adeligen und Geistlichen des 17. Jahrhunderts sind nur ein Teil von insgesamt
8000 Menschenüberresten.
Das Schicksal der im Alter von nur zwei Jahren verstorbenen Rosalia Lombardo,
welche erst 1920 in die Katakomben eingelagert wurde, inspirierte Franzobel
zu der Erzählung rund um den ganz normalen Wahnsinn menschlicher Auswüchse.
Das Mädchen liegt in einem gläsernen Sarg und scheint zu schlafen. Bis vor wenigen
Jahren wurden die Mumien oder ausgetrockneten Leichen von deren Angehörigen
regelmäßig neu eingekleidet. Rosalia gilt als "Hauptattraktion".
Ein ähnliches
Erlebnis war dem Rezensenten anlässlich eines Rombesuches in der
Kapuzinergruft
der Unterkirche der Immacolata Concezione widerfahren. Dort ruhen zwar nur etwa
4000 Kapuziner; nicht weniger morbid die Wirkung, der man als Besucher ausgesetzt
ist. Die Endlichkeit des Lebens tritt ins Bewusstsein des Betrachters wie eine
Lawine ein, der er zumindest vorläufig nicht gewachsen ist. Franzobel lässt
die unerlöste Seele der Rosalia in verrückten Körpern hausen, ehe sie zur Himmelfahrt
antreten kann.
Die Internetadresse
"www.picturesofdeath.com"
besaß eine Suggestivkraft, die einem abscheulichen Charakter des Buches inhärent
ist. Vor Jahren noch existierte diese Adresse ohne Umleitung. Es waren zerquetschte
Schädel, plattgefahrene Verkehrsopfer und weitere grausliche Bilder zu sehen.
Mittlerweile wurde die Seite offensichtlich zensuriert; gibt man die Netzadresse
ein, wird der geübte Internetbenutzer auf eine Pornoseite transformiert.
Die Darstellung
exzessiver Pornografie fällt keiner Zensur zum Opfer. Verstümmelte Leichen erregen
öffentliches Ärgernis, während brutalste Pornografie ungestüm ein absurdes Leben
im Internetmeer fristet.
Rosalia und die Gesichter des Todes sind die Attrappen, in die sich die
Geschichte von "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit" einnistet. Die Protagonisten sind bar
jeder menschlichen Vernunft in physischer Präsenz deformiert. Wenn sich in einem
Film eine fette, türkische Mama den armenischen Einwanderer in der Küche zu einem
Arschfick anlachen will, kommt es nicht zum Äußersten. Das Äußerste ist es, zu
dem sich die Menschen im Lusthaus herabbegeben. Es gibt nichts, zu dem sie nicht
fähig wären. Und der Film, der im Kopf abläuft, ist bizarrer und physischer als
jede Möglichkeit, der sich das Pornokino zu bedienen vermag. Die Zerrissenheit
der Anti-Helden möchte den Frauen ins Gesicht brunzen.
Das Gegenteil geschieht: Frauen sollen den Männern ins Gesicht brunzen, und es
gibt nichts, das dagegen ankommen will. Die Filmszene in "Lulu on the bridge"
von Paul Auster, wo die Geschichte erzählt wird, dass in einem Flugzeug ein Mann
darauf wartet, auf die Toilette gehen zu können, ist gegen die Parodien vom Scheißen
und vom Brunzen, die das Lusthaus durchdringen, eine unbedeutende Episode. Dabei
ist der Mann, als er die Toilette schließlich betreten darf, schockiert, als er
auf dem Klodeckel einen riesigen Haufen von Scheiße erblickt. Sexualität wird
in der Parade der physischen Elemente des Lebens nur zu einem weiteren Element.
Eigentlich nicht verwunderlich, dass eine ehebrecherische Fellatioszene auf einem
von Scheiße durchdrungenen
Klo stattfindet. Der Autor hat die Leipziger Buchmesse
mit seinem Besuch auf dem blauen Sofa beehrt und seiner Interviewerin das Geheimnis
anvertraut, dass er sich beim Flugzeugfliegen buchstäblich anscheiße, und aus
diesem Grunde vom Biertrinken nicht lassen könne. Tatsächlich ist das Wort Scheiße
aus dem Lusthaus nicht herauszudenken. Es ist eingebunden in Sprachkompositionen,
die menschliche Unarten seltsam verzieren.
Eine unglaubliche Fülle
an Schleudertraumen durchzuckt das Gehirn des Lesers. Er wird hin- und hergerissen
von jener zur nächsten Abartigkeit, die in dieser Form jede für sich ein einzigartiges
Geweide verspritzt. Neben der physischen Präsenz ist auch die Politik ein wesentlicher
Faktor der Blamage. Eine Schlüsselszene zeigt an Jörg H. und seinen Tascherlträger
gemahnende, halbseidene Kreaturen über
den Heldenplatz flanieren. Der Generalsekretär spricht über die Ähnlichkeit
von Affen
und Menschen,
während sein Kompagnon Saturn höchstpersönlich ins Spiel bringt.
Plötzlich weht den strammen Politikern die Asche eines Nazis ins Gesicht. Eigentlich
fühlt sich Franzobel ja nur belästigt, wenn dieser Jörg Haider
einmal nicht weggeschaltet
wird. Doch die fehlende Ignoranz hat zum Ziel, dass vom Epizentrum dieses Ascheregens
ausgehend die Geschichte vom Lusthaus sich ringelt. Die Enkelin des Altnazis
weiß davon, wie dieser selbsternannte Herrenmensch einen Juden dazu zwang, den
Fußboden aufzulecken und Scheiße zu fressen. Nur ein Zufall brachte es mit
sich, dass der Großvater den Juden nicht erschoss.
Franzobel
geht sehr weit. Das Buch wäre eher einen Skandal wert als die
Jesusverunglimpfung
eines Gerhard Haderer. Franzobel nämlich nimmt sich überhaupt kein
Blatt vor den Mund. Er brilliert mit seiner Sprache und vermag es, alles auszudrücken,
was er ausdrücken will. Nichts wird ausgelassen. Alles in Eines gegossen.
Ehe die Tötung des Körpers der Person, die Rosalia als Inkarnationsbehausung diente,
als Ausgangspunkt eines Extremgemetzels dicke Blutlachen zurücklässt, werden noch
allerlei sonstige Verrücktheiten passieren. Aus dem Buch eine Kritik der Globalisierung
abzuleiten, mag nur dem Eingeweihten vorbehalten sein. Ein Genuss ist es auf jeden
Fall, diesen Fall von verabsolutiertem Wahnsinn zu lesen. Die ständig wiederkehrenden
Zauberformeln der katholischen Kirche verbinden sich im Kontext mit den sie umgebenden
Textstellen zu einer Blasphemie, die ihresgleichen sucht. Franzobel ist ein Gottsucher,
und er weiß sich offensichtlich so am besten zu helfen. Es ist eine harte Bandage,
welcher der Leser ausgesetzt ist. Er steckt drin in den Ausdünstungen, den Grobheiten,
den Anbrunzbegierden und entseelten Arschfickereien. Schildbürgerstreiche, gespenstische
Nekrologe und leise Anflüge auf die Bankrotterklärung Argentiniens sind nur drei
von vielen weiteren Zutaten, auf die der Leser gespannt sein darf, wenn er sich
dieser Rezension zum Trotz zur Extremlektüre von "Lusthaus oder die Schule der
Gemeinheit" entschließen sollte.
(Jürgen Heimlich)
Franzobel: "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit"
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2002. 169 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Haymon, 2010.
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zu einem Franzobel-Interview
Weitere Bücher des Autors:
"Was die Männer so treiben, wenn die Frauen im Badezimmer sind"
Hildebrand Kilgus ist nicht gerade ein Mann, der
Frauen orgiastisches Stöhnen entlocken könnte. Doch ausgerechnet solchen
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Angestellter einer Agentur zur Manipulation des Wetters landet er in Rom, wo er
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So stolpert "Hildy" durchs Leben, ein durchgeknallter
Franz von Assisi und
tölpelhafter Simplicissimus. (Zsolnay)
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"Wiener Wunder"
Anonyme E-Mails bringen Falt Groschen, 45, Kommissar im Morddezernat
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scheucht korrupte Sportartikelvertreter auf und den windigen Journalisten Walter
Maria Schmierer; Wenningers Frau Marion übt mit dessen ehemaligem Trainer nicht
nur für den Triathlon, und Wenningers Manager taucht unter. Als auch er
tot aufgefunden wird, nimmt der Fall eine verblüffende Wendung ... (Zsolnay)
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