Léda Forgó: "Der Körper meines Bruders"


Vom Scheitern an einer selbst auferlegten Verpflichtung

Im Herbst 1953 gebiert eine junge Frau in Budapest Zwillinge - und ist nach den Qualen der Geburt geradezu abgestoßen von den Kindern, um die sich fortan vor allem der Vater kümmert.
Die Zwillinge Borka, eher forsch veranlagt, und Palkó, das ruhigere Pendant, sind einander selbst genug. Dies ändert sich, als die Familie in die Wirren des Ungarnaufstands hineingezogen wird: Ein Querschläger trifft den dreijährigen Palkó und tötet ihn. Der Vater kann den Tod des Kleinen, der mit dem Scheitern der Revolution einhergeht, nicht verwinden und erhängt sich. Zurück bleiben Borka, die nicht versteht, warum ihr so viel beliebterer Bruder sterben musste und nicht sie, und die Mutter, die nicht recht weiß, was sie mit dem ihr fremd gebliebenen und nun auch lästigen Kind anfangen soll. Borka ist nicht "süß", sondern kräftig, gedrungen und in jeder Hinsicht dickköpfig.

Während Borka mit allen Mitteln versucht, die Mutter an sich zu binden, das heißt, von um ihre Gunst konkurrierenden Männern fernzuhalten, fühlt sie auch die Verpflichtung, für ihren Bruder mitzuleben, eine Bürde, an der sie zugrunde zu gehen droht.

Der letztlich doch in die Zweisamkeit von Mutter und Tochter eingedrungene Stiefvater, ein Kollege der ihm hörigen Mutter, behandelt das abweisende und unattraktive kleine Mädchen mit Hass und Verachtung. Borka lernt früh, was es heißt zu scheitern.
Als sie in der Pubertät zu einem ansehnlichen Mädchen heranwächst und allmählich beginnt, aus Palkós Schatten zu treten, kommt es zu einem Vorfall, der das Rad der Geschichte scheinbar zurückdreht. Der Kreis um Borka schließt sich.

Dieser aus der Ich-Erzählperspektive vorgetragene Roman ermöglicht es dem Leser, tief in Borkas kleine Welt einzutauchen, die sich mit dem Älterwerden des Kindes allmählich etwas weitet, um sich dann schlagartig wieder zusammenzuziehen.

Meistens berichtet Ich-Erzählerin Borka aus der Sicht des kleinen Mädchens, nur manchmal greift die Autorin, die Perspektive brechend, erläuternd, gleichsam als erwachsene Borka, ein. Mit den Augen des verstörten Kindes erlebt man den Tod von Bruder und Vater, dessen Sinnlosigkeit und Absurdität gerade durch diese Sichtweise in fast zynischer Weise erfahrbar werden. Absurdität und Ausweglosigkeit begleiten Borka auch weiterhin, die aufgrund der selbst auferlegten Verpflichtung, anstelle des Bruders weiterzuleben, geradezu zum Versagen prädestiniert ist.

Gewalt und Beschämung, verbal, brachial und sexuell, sind Borkas Begleiter. Dass Borka schließlich mehr oder weniger in dieselbe Situation gerät wie ihre Mutter fünfzehn Jahre zuvor, ist nicht nur ein meisterlich eingefädelter erzählerischer "Trick" der Autorin, sondern im Grunde zwangsläufige Konsequenz einer fatalen Entwicklung.

Léda Forgó, fast zwanzig Jahre nach dem Ungarnaufstand geboren, versteht es, die dramatischen Wochen des Jahres 1956 authentisch, jedoch nicht plakativ (sofern sich das von mit Zeitzeugen bekannten "Außenstehenden" beurteilen lässt) als Hintergrund ihres Romans zu verwenden; dies gilt auch für die darauf folgenden Jahre des so genannten Gulaschkommunismus. Borka steht nicht nur für ein Einzelschicksal, sondern für das Scheitern einer ganzen Generation, das vom persönlichen Umfeld wie von den politischen Bedingungen ausgeht, die eng und unentwirrbar miteinander verflochten sind.

Ein bemerkenswerter, sehr einfühlsam und gänzlich ohne Gefühlsduselei verfasster Roman mit existenzialistischen Anklängen.

(Regina Károlyi; 09/2007)


Léda Forgó: "Der Körper meines Bruders"
Atrium Verlag, 2007. 334 Seiten.
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Léda Forgó, 1973 in Ungarn geboren, wuchs in Budapest auf. 1994 zog sie nach Stuttgart, studierte dort Geschichte und anschließend Figurentheater. Später studierte sie "Szenisches Schreiben" an der Universität der Künste in Berlin. Ihr Stück "Onkel Gol und die Wespen" wurde im Jahr 2000 im Rahmen der Göttinger Dramatikerwerkstatt unter der Regie von John von Düffel aufgeführt. Für die Novelle "Wie im schlechten Film" erhielt sie ein Stipendium des Berliner Senats. Léda Forgó lebt in Berlin.
Für "Der Körper meines Bruders" wurde sie im Jahr 2008 mit dem "Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis" ausgezeichnet.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Vom Ausbleiben der Schönheit"

Ist jemand, der als Kind nicht geliebt wurde, dauerhaft beschädigt? Lále, als kleines Mädchen von der Mutter verlassen, zieht es auch als Erwachsene vor, niemandem zur Last zu fallen, und bringt es im Alleinsein fast zur Perfektion. Mit ihrer überbordenden Fantasie und übersteigerten Sensibilität schafft sie sich eine eigene Welt, in der sie zwar nicht glücklich ist, aber heimisch. Als sie, hauptsächlich, um ein Kind zu bekommen, eine Verbindung mit Pit eingeht und mit ihm in die Provinz, in die Nähe seiner Eltern, zieht, treffen Welten aufeinander. Die Ungarin Lále hat in eine deutsche Familie eingeheiratet, die so bieder und spießig ist, dass sie die feenhafte fremde Frau, die Bücher liebt und mit ihrem Sohn Ungarisch spricht, von Anfang an instinktiv ablehnt. Lále bemüht sich um die Gunst der Familie, aber die hat längst beschlossen, dass Pit sich von Lále trennen und deren gemeinsame Kind behalten wird. Lále hat nur noch ein Ziel: Sie muss weg. Nach heimlichen Vorbereitungen flieht sie mit ihrem Sohn nach Berlin, um einen neuen Anfang zu wagen. Aber sie hat nicht damit gerechnet, dass der von ihrem Verrat tief gedemütigte Pit Rache nehmen will ... (Rowohlt Berlin)
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