Catalin Dorian Florescu: "Der kurze Weg nach Hause"

Zeitreise in die Heimat, Heimkehr in die Gegenwart: Wo ist "bei uns"?

"Eigentlich war es ein kurzer Weg nach Hause gewesen. Der Weg aus den inneren Bildern heraus und in die äußeren hinein. Der Weg durch die Haut. Jetzt war alles da, und ich brauchte die besten Worte nicht mehr."


"Der kurze Weg nach Hause" erzählt von Träumen und Trennungen, vom Lieben und Loslösen, vom Ankommen und Abschiednehmen, wobei zwei junge Männer und ihre Freundschaft im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Die Lebenswege der beiden Hauptcharaktere verlaufen ein gutes Stück nebeneinander, beider Antrieb entspringt jedoch nicht derselben Quelle:

Der Ich-Erzähler namens Ovidiu, 23, mit einer besonderen Vorliebe für klassische Filmszenen und Zitate, ist im Jahr 1982 gemeinsam mit seinen Eltern aus Rumänien in die Schweiz - (den sogenannten "Hort der Zivilisation") - ausgewandert und besucht Anfang der 1990er-Jahre, nach einem vorübergehenden Rückzieher, (der Mut hat ihn am Bahnsteig verlassen), und der Überwindung äußerer wie innerer Widerstände, nach dem politischen Umsturz in Rumänien sein Geburtsland und seine dort verbliebenen Verwandten: den alkoholkranken, sterbenden Onkel und dessen Frau. Auf der Suche nach fühlbaren Wurzeln sowie seiner verschütteten kindlichen Heimatwahrnehmung schärft Ovidiu im Verlauf der Reise seinen Blick für Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Beziehungen und Entscheidungsfreiheit; er akzeptiert, wer und wie er ist.

Während Ovidiu also reift, erfährt sein Reisegefährte Luca, des Ich-Erzählers bester Freund von Kindesbeinen an, keine merkliche charakterliche Entwicklung - er bleibt derselbe wortkarge, egoistische Zyniker, dessen Lebensmotto "hinter mir die Sintflut" zu sein scheint und der "den Teufel im Leib hat", wie Leute munkeln, die ihn genauer betrachten. Der rastlose Luca flüchtet vor allem und jedem und ist augenscheinlich am angestrengtesten bemüht, dem eigenen Denken und jeder möglichen Selbsterkenntnis zu entfliehen.

Die Stationen der Reise sind Mangalia, ein Kurort an der rumänischen Schwarzmeerküste, welcher der Rahmenszenerie als Kulisse dient, Zürich, Budapest und Wien. Zwischen der Gegenwart als Erzählzeit zu Beginn und am Ende des Romans liegen chronologisch abgefasste Rückblenden auf Erlebnisse in den anderen Städten.

Luca und Ovidiu haben die Reise getrennt angetreten. Werden die ungleichen Freunde gemeinsam zurückkehren, oder wird Ovidius endgültige Abnabelung in der Fremde, die seine Heimat ist, abgeschlossen werden? 

Der Leser begleitet die beiden Weggefährten gen Osten und liest zu annähernd gleichen Teilen mit Vergnügen, Verwunderung und Begeisterung, was das sogenannte "Ereignis" ist, warum Luca dermaßen überstürzt, wenngleich unfreiwillig allein, seine Reise ins Blaue angetreten hat, was ihn mit Lara, der Freundin eines gemeinsamen Bekannten, des ewig Besserung gelobenden rauschgiftsüchtigen Toma De Felice, Sohn eines Bildhauers, verbindet. Man lässt sich von Catalin Dorian Florescu behutsam in entlegene Landschaften entführen, schließt Bekanntschaft mit Ovidius ungarischer Geliebter Zsófia, die Konflikte sozusagen kulinarisch bewältigt, indem sie bei drohenden Zerwürfnissen opulente Mahlzeiten zuzubereiten beginnt und ansonsten vorwiegend schweigt, spioniert und undurchsichtig bleibt, erfährt, warum sich János, der ehemalige Verlobte Ildikós, die Lucas Geliebte in Budapest war, vor deren Wohnhaus verbrannt hat, begegnet umgänglichen Gesetzeshütern, verschrobenen Stadt- und Dorfbewohnern und neugierigen Kindern mancher Herren Länder, gerät mit Ovidiu ab und zu in eine brenzlige Situation, bekommt einen Eindruck davon, wie die rumänische Bevölkerung die historischen Ereignisse des Jahres 1989 erlebte, wie unterschiedlich die Auslegungen der Geschichte des Landes seither ausfallen, und auch von der selbstverständlichen Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft in Rumänien.

Catalin Dorian Florescu verarbeitet in seinem zweiten Roman, wie auch in seinem Romanerstling "Wunderzeit", autobiografisches Ausgangsmaterial mit großem Geschick zu unterhaltsamem Lesestoff, der jedoch keineswegs als oberflächlich bezeichnet werden kann. Die Figur des Ovidiu, die sich gewandt zwischen zwei gegensätzlichen Welten bewegt, ermöglicht interessante Perspektivenwechsel sowie kritische und liebevolle Äußerungen zu den Verhältnissen und Auswüchsen hier wie dort.
An dieser Stelle seien einige Beispiele der sanften, bildhaften Sprache, die stets detailfreudig schildert, genügend Raum zum Atmen lässt und enthüllt, jedoch nicht entblößt, angeführt:

"Sie (die Rentner; Anm.) gehen sonntags einige Schritte weit, um ihre Einsamkeit zu lüften. Sie ruhen auf den Bänken hinter mir aus, aber die Jahre rücken nicht von ihnen ab."
"Die Mücken haben, wie die Partei, immer das Proletariat in Schach gehalten."
"Junge Frauen, abgemagert durch ihre Sehnsucht nach der perfekten Linie im Raum, hielten sich so den Hunger vom Leib."
"Ich war David, und jeder Tag war Goliath, und jeder Tag war gefährlich. Ich hatte immer gesiegt und war abends zufrieden und erschöpft ins Bett gefallen."

Catalin Dorian Florescu wurde 1967 im rumänischen Timisoara geboren. 1976 reiste er mit seinem Vater nach Italien und Amerika, 1982 folgte die endgültige Emigration. Der gelernte Psychologe lebt und arbeitet in Zürich. 

(kre; 12/2002)


Catalin Dorian Florescu: "Der kurze Weg nach Hause"
Pendo, 2002. 244 Seiten. 
ISBN 3-8584-2476-5.
ca. EUR 19,90.
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"Wunderzeit" - der erste Roman von Catalin Dorian Florescu:
Anfang der 1980er Jahre zwischen Rumänien und Jugoslawien: Der 15jährige Alin sitzt mit seinen Eltern an der Grenze fest. Angespannt warten sie auf die Ausreise, und der Junge erinnert sich zurück: Mit erfrischender Leichtigkeit und aus der Perspektive eines kindlichen Dissidententums beschreibt der Erzähler die dramatischen und grotesken Ereignisse im rumänischen Alltag unter Ceauçescu, seine Reisen mit dem Vater, die Freundschaften und ersten Schwärmereien in Italien und die harte Realität in New York, die mit dem Traum von der großen Freiheit sehr wenig gemeinsam hat. Im Zentrum der Geschichte aber steht die innige Beziehung zwischen Vater und Sohn, die gemeinsam alle Irrungen und Wirrungen dieser langen Reise bestehen.

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